Die Unperfekten
Am Rand des Ruhrgebiets liegt eine Filmstadt, die kaum einer kennt: Mülheim. Ein Ort, an dem bizarrer Humor regiert. Und wo, neben Helge Schneider, Werner Nekes und Christoph Schlingensief gearbeitet haben. Gibt es eine »Mülheimer Schule«? fragt unser Autor Ulrich Sonnenschein
Das Perfekte ist das Unwahre. Wenn man ein Dogma für die »Mülheimer Schule« suchen will, dann wäre es diese Absage an die gängige Vorstellung von fehlerfreier Qualität, glanzvoller Haltbarkeit und traditionsbildender Dominanz. Die führenden Köpfe der Mülheimer Schule, die Big Three, Werner Nekes, Christoph Schlingensief und Helge Schneider, finden sich in dieser Verehrung des Unperfekten. Spontan ist ihre Kunst, zumal die Filmkunst, aber immer hintersinnig, bösartig manchmal und dann auch mit großem Spaßfaktor.
Alles begann bei Werner Nekes, noch bevor er Professor in Hamburg und Offenbach wurde. In den sechziger Jahren drehte er, ganz seiner Zeit verhaftet, Experimentalfilme, die von fern an Andy Warhol erinnern und beispielsweise ein fressendes und dann sterbendes Huhn zeigen. Schon der Titel ist spaßhaft absurd und kaum zitierbar: schwarzhuhnbraunhuhnschwarzhuhnweisshuhnrothuhnweiss oder put-putt. Genau wie der zehnminütige Experimentalfilm jüm-jüm, in dem er seine Frau, die Künstlerin Dore O., auf einer Schaukel zeigt, die sich vor einem gemalten überdimensionalen Phallus hin und her bewegt. Tabus und Tabubrüche sind immer wieder strukturierender Bestandteil der verschiedenen Projekte der drei – ebenso das Rätselhafte. Auf die Frage, was machen die eigentlich, erfährt man oft ein Achselzucken. Die Nicht-Erzählbarkeit ist eine Art Immunsystem dieser Kunst, sie macht die Kunst immun gegen die Überführung in die Welt der Relevanz und die Welt der Unterhaltung. Fast alle Filme von Nekes, Schlingensief und Schneider haben in dieser Uneindeutigkeit ihr entscheidendes Merkmal. Uliisses von 1982 war Nekes größter und vielleicht einziger Erfolg. Der Film gehört zu den wenigen erfolgreichen radikalen Experimenten der deutschen Kinogeschichte, eine bizarre Mischung aus Magie, optischer Spielerei und einer schon im Zerfall begriffenen Ruhrgebietslandschaft. Die alten Industriehallen zeigen bei Nekes schon eine bizarre Schönheit, lange bevor die Technogeneration dort Einzug hielt. Die verlassenen Tempel der Industriekultur sind der Ort, an dem Nekes Mythos und Moderne aufeinanderprallen lässt. Denn Uliisses verdankt Homer ebenso viel wie James Joyce, ohne beide direkt zu bebildern. Der Protagonist dieses Films, der Fotograf Uli, ist ein ganz eigener Leopold Bloom, unterwegs auf den verschlungenen Pfaden der Filmgeschichte.
1986, da war Christoph Schlingensief schon einige Jahre Regieassistent bei ihm gewesen, drehte Werner Nekes Johnny Flash, die Geschichte eines arbeitslosen Elektrikers, der bei seiner Mutter wohnt und mit allen Mitteln versucht, als Schlagersänger Erfolg zu haben. In der Hauptrolle ein noch völlig unbekannter Helge Schneider, der quasi sich selbst spielte, mit dem untertourigen Klamauk und der unmissverständlichen Ambition, einmal die »singende Herrentorte« zu werden. Kurz darauf folgte ein Auftritt in Christoph Schlingensiefs Menu Total oder Hymen 2 – Die Schlacht der Vernunft. Schneider und Schlingensief hatten sich bei den Kulturabenden, die Schlingensief in seinem Oberhausener Elternhaus abhielt, kennengelernt und in der Verbindung von Musik und Film Parallelen gefunden. Auch Schlingensief hatte sich als Musiker versucht, bevor er begann, Filme zu drehen. Für Helge Schneider allerdings sollten Filme immer ein Nebenwerk bleiben. Denn Schneider ist Musiker, ein wahrer Multiinstrumentalist. Mit dem bereits erwähnten intendierten Mangel an Perfektion und einem hohen Authentizitätsgrad spielt er nahezu jedes Instrument in kürzester Zeit. Das Programm, das ihn dann schließlich zu dem machte, was er heute ist, war damals nur die Conférence zwischen den Stücken, die er zum Beispiel im Essener Kulturforum wöchentlich zu Gehör brachte. Als er sah, dass das Kneipenpublikum bei den Ansagen zuhörte und dann bei den Stücken ins Gespräch zurückfiel, dehnte er diese immer weiter aus, bis das musikalisch unterfütterte Kabarett-Programm à la Helge Schneider übrig blieb und »Katzeklo« alles änderte.
Schneiders Filme sind noch nicht einmal Klamauk. Sein Humor ist absurd, bizarr und freudvoll naiv. Er unterläuft jegliche Erwartungen, auch die, dass er dies immer wieder macht. Bei Schneider ist auf gar nichts Verlass. Die in jeder Hinsicht ziellose Ironie, die Absicht ebenso spießig findet wie Ergebnisse, führt zu einer Ästhetik, die sich selbst und dieses Begriffs nur noch spotten kann. Doc Snyder, 00 Schneider oder Dr. Hasenbein sind dabei ebenso SommerSonneKaktus wie der etwas zu kleine blaue Anzug, die straßenköterblonde Echthaarperücke, die sich von seiner eigenen Frisur nicht in einem Deut unterscheidet, und die Fistelstimme. Schneider ist Kult dort, wo es keinen Kult mehr gibt, ist Musik in den Ohren der Röhrenverstärker und als Filmemacher nicht einmal ein Dilettant. Jede Aussage, jedes Lied und jeder Film sind immer nur Teil des Gesamtkunstwerkes sui generis. Schneider ist Schneider, nicht mehr und nicht weniger. Und als solcher der natürliche Feind jeglicher absichtsvollen Aussage.
Das unterscheidet ihn manifest von seinem Freund Christoph Schlingensief. Auch Schlingensief ist nie perfekt, aber immer genial gewesen, hat sich in Ideen verliebt und erst dann über Umsetzung und Machbarkeit nachgedacht und dabei immer eine Aussage verfolgt. Sein Kurzfilm Mensch Mami, wir dreh’n ’nen Film ist ein frühes Zeugnis dieser Identität von Absicht und Inhalt. Bis zum den zweiten Teil seiner Deutschland-Trilogie, bestehend aus 100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker, Das deutsche Kettensägenmassaker und Terror 2000 – Intensivstation Deutschland, hatte Schlingensief gut 25 Filme von unterschiedlicher Länge gedreht. Das deutsche Kettensägenmassaker von 1990, eine Mauerfallsatire mit deutlichen Anklängen an Tobe Hoopers Horrorfilm The Texas Chainsaw Massacre, machte ihn, wenn schon nicht berühmt, so zumindest international bekannt. Der Film lief in England und Amerika mit unterschiedlichem Erfolg und auch auf der Berlinale. In der schnellen, wild emotionalen Reaktion auf die politischen Ereignisse des Jahres 1989 inszeniert Schlingensief den Mauerfall als nationales Schlachtfest. Eine westdeutsche Metzgerfamilie stürzt sich beim Anblick der ersten DDR-Bürger in einen Blutrausch und bringt in einer heruntergekommenen Hotelküche frisch angereiste Ossis um. Schärfer wurde die Einheit auch später nicht kommentiert. 14 Tage dauerte es nur, da war der Film fertig und Schlingensief schon beim nächsten Projekt. Theater, bildende Kunst und öffentliche Performance wechselten einander nun ab, Film spielte nach Die 120 Tage von Bottrop aus dem Jahr 1997 keine wirkliche Rolle mehr. Nach seinem Tod im Jahr 2010 schrieb der »Spiegel«, Schlingensief wollte »ein Aufklärer sein, ein Bußprediger und Mahner«, doch besser hätte man einen »Kultur-Superstar« in ihm gefunden. Der geniale Unsinn, den auch Helge Schneider pflegt, mischte sich mit einem ausgeprägten Interesse an Kunst und Kultur. Aus dem ehemaligen »Schund-Filmemacher « wurde ein Provokationstheaterkünstler, der sich, so der »Spiegel«, »selber wunderte, wie massiv ihm durch sein öffentliches Sterben die Sympathien und die Anerkennung der Menschen plötzlich zuflogen«.
Man kann nur mutmaßen, ob sich die Protagonisten der »Mülheimer Schule« über dieses Etikett freuen, oder es, wie Christian Petzold das der Berliner Schule, schlicht negieren. Doch in den Taschen des übergroßen Mantels von Werner Nekes steckte all das Potenzial eines in der saturierten Wohlstandsgesellschaft, die keiner wirklich abschaffen will, letztlich einzig wirklich subversiven Blödsinns. Und das auf unbemerkt hohem Niveau.
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