Die Mauer ist weg
»Zwischen uns die Mauer« (2019). © Alpenrepublik
Im November wird das 30. Jubiläum der Grenzöffnung gefeiert. Ein welthistorisches Ereignis – von dem der deutsche Film aber merkwürdig verhalten und mit Fokus auf dem Privaten erzählt. Mit dem Mauerfall beschäftigte sich im September »Moving History«, das Festival des historischen Films in Potsdam. Es findet in diesem Jahr vom 25.9. bis 29.9. zum zweiten Mal statt und präsentiert dokumentarische und fiktionale Filme mit historischen Themen aus der aktuellen Kinofilm- und Fernsehproduktion. Das diesjährige Thema ist »Als wir träumten. Revolution, Mauerfall, Nachwendezeit« und viele der im Text erwähnten Filme sind dort noch einmal zu sehen.
Am Ende sitzt Herr Lehmann am Tresen einer ziemlich heruntergekommenen Trinkerkneipe. Eigentlich heißt er ja Frank mit Vornamen, aber alle nennen ihn Herr Lehmann in SO 36 – Berlin-Kreuzberg. Herr Lehmann bedient selbst im »Einfall« und ist so etwas wie eine provisorische Existenz. Er hat eine gescheiterte kurze Liebe hinter sich, seine Eltern aus Westdeutschland waren da, ein Besuch in Ostberlin endete am Grenzübergang (wegen »Devisenschmuggels«), und gerade hat er seinen Künstlerkumpel Karl ins Krankenhaus gebracht. Zu wenig geschlafen, zu viel Alkohol, zu viele Drogen. Und nach vielen Bieren steht neben ihm eine ebenfalls ziemlich heruntergekommene Trinkerin und sagt »Habt ihr schon gehört? Det Neueste: Die Mauer ist offen. Die kommen jetzt alle rüber. Des sollte man sich vielleicht mal ansehen.« Aber Herr Lehmann bleibt auch angesichts der jubelnden Menschenmassen im Schwarz-Weiß-Fernseher mit Antenne hinter der Theke Herr der Lage: »Erst mal austrinken«, sagt er. Später wird er dann doch zur Mauer fahren und staunend und ein bisschen verständnislos die Leute aus der DDR in Augenschein nehmen. Irgendetwas wird anders sein, das spürt auch Herr Lehmann, und es wird seinen ganzen Kosmos verändern. Einen Kosmos, in dem schon eine Fahrt in einen anderen westlichen Stadtteil Entfremdungsgefühle auslösen konnte und Ostberlin, die »Hauptstadt der DDR«, auf einem anderen Kontinent lag. Die fetten Jahre waren vorbei, irgendwie.
Leander Haußmanns »Herr Lehmann« von 2003 – das ist gewissermaßen die Westsicht auf den Fall der deutsch-deutschen Grenzbefestigungen. Nicht umsonst sieht man zu Beginn des Films (der auch kurz einen »taz«-Leitartikel »Zaghaft grummelts in der DDR« einblendet) ein westdeutsches Fünfmarkstück, das man damals liebevoll »Heiermann« nannte und das zur westdeutschen Identität gehörte. Es ist erstaunlich, dass in den ersten anderthalb Jahren nach der Schabowskischen Pressekonferenz einige Filme diese Perspektive einnahmen. Der Fall der Mauer – das wird von ihnen als ein Einschnitt im Privaten verortet, weniger als Befreiung denn als Scheitern. Volker Schlöndorff stellt in »Die Stille nach dem Schuss« (2000) eine Aussteigerin in den Mittelpunkt seines Films: die – fiktive – Terroristin Rita Vogt, die jahrelang inkognito in der DDR lebte. Der Film, einer der besten von Schlöndorff, war damals umstritten, weil der Verlag der ehemaligen RAF-Terroristin Inge Viett dem Regisseur und seinem Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase (der seit den frühen Fünfzigern für die DEFA Drehbücher schrieb) unterstellte, sich in großen Teilen auf ihre Autobiografie zu stützen. Schlöndorff erzählt die Biografie der untergetauchten Terroristin als kleine private Geschichte, aber er vermeidet die Stimmung der abgeklärten Rückschau. Ihn interessiert auch weniger, wie Rita Vogt (Bibiana Beglau) zur Terroristin wurde und welche Verbrechen sie beging – das handelt der Film in der ersten Viertelstunde schnell ab. Schlöndorff beschäftigt sich vielmehr mit dem Überleben in einem fremden Land: der DDR. Die Stasi ermöglicht der jungen Frau ein zweites Leben, gibt ihr eine neue Identität als Arbeiterin in einer Druckerei für Modestoffe. Es wird deutlich, dass Rita ihren Traum von einer gerechteren Welt auf die DDR projiziert, dass sie Ruhe sucht – auch in Verhältnissen, an deren Erstarrung und Spießigkeit Schlöndorff und Kohlhaase keinen Zweifel lassen. Aus der Rebellin ist eine Bewahrerin geworden.
Aber über dem vermeintlichen volkseigenen Paradies schweben immer die Stasi und die Gefahr der Entdeckung. Mit dem Mauerfall fällt auch Ritas neue Identität. In ihrer Flucht ins private Leben wird sie nun doch von der Politik zerrieben. Es gibt kein richtiges Leben im falschen, soll das bedeuten. Als ihre Kolleginnen sich über den Mauerfall freuen, hält Rita so etwas wie eine Rede: »Vielleicht wird es dir niemals besser gehen als hier. Hier kannst du nicht rausfliegen, nicht aus deiner Arbeit, nicht aus deiner Wohnung. Ihr habt keine Ahnung, was kommen wird, ihr wisst nicht, was ihr verliert.« Und sie sagt: »Es war doch ein großer Versuch.«
Auch in Oskar Roehlers »Die Unberührbare« war von dem Schock die Rede, den der Mauerfall (auch) erzeugt hatte, die Überraschung darüber, dass das Volk jenseits des Stacheldrahts, das die Mauer zu Fall gebracht hatte, nicht anders war als das auf der anderen Seite. Roehler lässt die westdeutsche Schriftstellerin Hanna Flanders (Hannelore Elsner), eine engagierte Linke, von München nach Berlin aufbrechen, zu einer mehrtägigen Odyssee direkt nach dem Mauerfall. Die Konfrontation mit den Plattenbauten und die Begegnung mit ihrem DDR-Verleger lässt sie ihre Verlorenheit, aber auch das Scheitern ihres Traums von einer heilen DDR spüren. »Die kämpfen für Mon Chéri«, klagt sie einmal. Der Fall der Mauer bedeutet in diesen Filmen immer auch eine Katharsis, auch im Leben von Gerhard Gundermann, dem Liedermacher und Arbeiter, den Andreas Dresen in seinem vielfach preisgekrönten Film (2018) sehr ambivalent porträtierte, zwischen überzeugtem Kommunisten und kritischem Beobachter der DDR. Er wolle die DDR verbessern, sagt er, als er versucht, in die SED aufgenommen zu werden. Gundermann, eigentlich ein Querdenker, den Alexander Scheer bis zur optischen Übereinstimmung grandios spielte, spionierte aber auch für die Stasi, aus voller Überzeugung und für den sozialistischen Traum, was in den frühen neunziger Jahren aufgedeckt wurde. Und er muss sich seiner Schuld stellen. »Verrat ist Verrat«, sagt ein Mitarbeiter der Gauck-Behörde zu ihm, »man kann auch ein Kommunist sein, ohne ein Schwein zu sein.« Und Gundermann gesteht sich ein, dass er sich nicht verzeihen kann.
Wie die Mauer und letzten Endes die DDR zu Fall gekommen sind, das interessiert in diesen Filmen wenig. Die ARD-Dokumentation »Schabowskis Zettel« (2009) rekonstruiert den 9. November 1989 minutiös, mit Zeitzeugen-Interviews, Archivaufnahmen und ziemlich hanebüchenem Reenactment: wie eine Arbeitsgruppe aus Stasi und Offizieren im Innenministerium das Papier verfasste, das Ausreise ohne Visum versprach, wie es das Zentralkomitee passierte und wie es schließlich Günter Schabowski, Mitglied und Sprecher des Politbüros des ZK der SED, verlas. Und weil er es nicht kannte, antwortete er auf die Frage, ab wann das denn gelte, mit einem »Sofort«. An diese Pressekonferenz knüpft quasi Christian Schwochows Fernsehsatire »Bornholmer Straße« an, die zum 25. Tag des Mauerfalls 2014 gesendet wurde. Und sie trifft den Leiter des Grenzübergangs Bornholmer Straße, Oberstleutnant Schäfer (Charly Hübner), Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, wie ein Schlag. Eigentlich war er auf eine ruhige Nacht eingestellt, mit seinen Magen-Darm-Problemen, doch die Wirklichkeit reißt ihn aus dem Trott: Immer mehr Menschen kommen an die Grenze, wollen »rüber« – und wieder zurück, übrigens. Zuerst weist Schäfer sie ab; er bereitet seine Leute auch auf gewalttätige Auseinandersetzungen vor. Doch als er wenig sachdienliche Vorgaben von seinen Vorgesetzten bekommt, gibt er schließlich den Schlagbaum frei. Das folgt so weit den Ereignissen, wie sie Schabowskis Zettel in Interviews und Archivaufnahmen liefert. Doch Schwochow macht daraus eine eher leise Komödie, die den uniformierten Männern der Grenztruppen (dazu gehören etwa noch die Schauspieler Milan Peschel, Rainer Bock und Frederick Lau) immer noch einen gewissen Charme lassen. Dass es aber keine sachliche Rekonstruktion der Ereignisse an diesem 9. November sein wird, das zeigen schon die ersten Szenen, als die Repräsentanten der Staatsmacht einem Hund nachhetzen, wegen seines »unerlaubten Grenzübertritts«.
Mehr in die Groteske steigert »Helden wie wir« (1999) den Fall der Mauer. Zu Beginn behauptet Klaus Uhlzscht, dass er verantwortlich für den Vorgang ist: weil er ihr seinen übergroßen Penis enthüllte. Das (nie gezeigte) Riesengenital entstand durch Blutstau, als er Blut für den Vorsitzenden Erich Honecker spendete. Auch Klaus Uhlzscht, den großen Naiven, verschlägt es zur Stasi, wo er Weisheiten zum Besten gibt wie: »Jede leere Seite ist ein potenzielles Flugblatt.« Sebastian Peterson hat seinen Debütfilm als Mix aus Spielhandlung, Dokumentaraufnahmen und Animationssequenzen gestaltet. Heute wirkt der Ton dieser Groteske seltsam abgehangen und erinnert eher an den kabarettistischen Stil von »Letztes aus der DaDaeR« von Jörg Foth (1990), einem Abgesang auf die untergehende DDR-Republik, in dem sich zwei Clowns auf die Reise durch ihr Land machen.
Die Repräsentanten des Staates kommen in den meisten Filmen, wie zu erwarten, nicht gut weg, von Ausnahmen abgesehen. In »Gundermann« spielt Axel Prahl einen gnadenlos jovialen Führungsoffizier, die Grenztruppen in Bornholmer Straße sind ziemliche Chargen. In dem in diesem Monat startenden »Zwischen uns die Mauer«, einer schönen, wenn auch nicht ganz klischeefreien Ost-West-Liebesgeschichte, rücken naturgemäß die Grenzkontrollen und -beamten in den Vordergrund, die der Film in ihrer ganzen Härte und Unerbittlichkeit zeigt, etwa als das Mädchen aus dem Westen eine Schallplatte nach Ostberlin schmuggeln will. Wer einmal die Grenze zur DDR oder zu Ostberlin überschritten hat, weiß, dass hier die Erfindung der Realität eher noch hinterherhinkt. Im Mittelpunkt von »In Zeiten des abnehmenden Lichts« von Matti Geschonneck – nach dem Bestseller von Eugen Ruge, wie übehaupt viele der »Wendefilme« auf literarischen Vorlagen basieren – steht der altgediente Parteifunktionär Wilhelm Powileit (Bruno Ganz), dessen 90. Geburtstag der Film schildert. Es ist der 1. Oktober 1989 und der Herbst der DDR. Powileit ist ein Ewiggestriger, ein Stalinist, der vor den »Tschows« warnt, den »Kapitulanten, Doppelzünglern und Hasardeuren«: denn die Konterrevolution kommt aus der Sowjetunion. Die Gratulanten schildert Geschonneck eher als Kuriositätenkabinett, präziser den Zerfall einer Familie, die auch für den Zerfall der DDR steht: denn Enkel Sascha ist kurz vor des Großvaters Geburtstag in den Westen geflohen.
»Adam und Evelyn« von Andreas Goldstein aus dem Jahr 2018 ist ein Film über, wenn man so will, die große Mehrheit in der DDR, über jene Bürgerinnen und Bürger, die sich eingerichtet hatten im Staat und unpolitisch waren. Und es ist ein Film über den letzten Sommer der DDR: Selten hat man in einer Regiearbeit über die Zeit des Mauerfalls so sehr die Blätter rauschen gesehen und gehört wie hier. Evelyn ist Kellnerin, Adam Damenschneider, und es gibt ein emblematisches Bild in diesem wunderbar langsam erzählten Film, wie sie im Garten sitzen, Evelyn über einem Buch eingenickt ist und Adam an einem Kleid näht. Idyllisch. Wenn Adam sich nicht immer mal wieder einer seiner Kundinnen erotisch nähern würde oder wenn sich nicht die Veränderungen, zumindest durch die in Ungarn in die BRD-Botschaft Geflüchteten, andeuten würden, könnte man dieses Tableau wie in einem Märchen deuten: Und so lebten sie bis zum Ende ihrer Tage. Aber schon der Titel suggeriert den Sündenfall. Sind es Adams erotische Eskapaden? Ist es der Fall der Grenze? Jedenfalls reist Evelyn mit einer Freundin und einem Westler nach Ungarn – und Adam in einem schönen alten Wartburg, Baujahr 1961, ihr nach, im Versuch, die Beziehung zu retten. Im Westen, in Bayern, fühlen sie sich fremd, ganz anders als der Deutschlehrer Udo (Wolfgang Stumph), der sich in »Go Trabi go« (1991) im ersten Jahr nach der Wende mit seiner Familie und dem Trabi Schorsch den Westen förmlich aneignete.
Die DDR als Idyll: Das haben zwei der größten Erfolge des deutschen Films der letzten Jahre vorexerziert, »Good Bye, Lenin!« und »Sonnenallee«. Wobei es in ersterem eine eher trügerische Idylle war: Am 40. Jahrestag der Gründung der DDR im Jahre 1989 fällt die überzeugte Sozialistin Christiane Kerner (Katrin Sass) nach einem Herzinfarkt ins Koma. Sie verschläft den Mauerfall und den Einzug des Kapitalismus in den sozialistischen Staat, der nicht mehr existiert. Als sie wider Erwarten aus dem Koma erwacht und jedwede Aufregung das Risiko eines weiteren Infarkts birgt, errichten ihr Sohn Alex (Daniel Brühl) und ihre Tochter Ariane (Maria Simon) 79 Quadratmeter DDR in der eigenen Plattenbauwohnung – bis hin zu gefakten Fernsehnachrichten. Zwar sorgen die Bemühungen von Frau Kerners Kindern und deren Freunden schon für einige vergnügliche Verwirrungen, doch das Hauptaugenmerk legt der Film auf die Veränderungen, die den Alltag eines Ostberliner Jugendlichen innerhalb weniger Monate vollkommen auf den Kopf stellen.
»Sonnenallee« (1999) von Leander Haußmann wirkt heute regelrecht nostalgisch: ein Blick in die siebziger Jahre, auf eine Gruppe von Jugendlichen, die Westmusik hören, und einen leidlich dummen »Abschnittsbevollmächtigten«, nicht unkritisch, mitunter albern, aber auch zotig. »Wir wollten einen Film machen, in dem die Leute neidisch werden, dass sie da nicht gelebt haben«, sagte Haußmann über seinen Film. Und: »Das ist es, was DDR-Bürgern stinkt: Man soll immer entweder Lagerkommandant oder Lagerinsasse gewesen sein – das Dazwischen war der Alltag.« Aber wahrscheinlich ist es im damaligen Grenzgebiet nie so lustig und entspannt zugegangen – oder will der Film sagen, dass die DDR eine einzige große Klamotte war?
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