Crashkurs deutscher Osten

»Sonnenallee« (1999). © Delphi Filmverleih

»Sonnenallee« (1999). © Delphi Filmverleih

Stasi, Platte, AfD: Da sind viele Klischees im Umlauf. Und der Westen hat immer noch die Lufthoheit im Deutungsraum. Das geht auch anders. 13 Regisseur*innen und Schauspieler*innen, die noch in der DDR geboren sind, empfehlen Filme aus dem Osten, über den Osten

»In einem Land, das es nicht mehr gibt« heißt einer der vielen Filme, die sich in den 35 Jahren seit der sogenannten Wende mit der DDR und ihrem Untergang beschäftigt haben. Aelrun Goette wirft in ihrem autobiografisch geprägten Werk aus dem Jahr 2022 einen Blick auf die Modeszene, die es, für viele sicherlich unbekannt, in Ostdeutschland gegeben hat. Und sie schildert diese durchaus anarchische Subkultur in farbenfrohen Bildern, so als würde sie sagen wollen: Nicht alles war grau in der DDR. 

Auch wenn der Titel ihres Films durchaus eine Trauer anmahnt, so versucht er wie viele Filme der letzten Jahre, wie Andreas Kleinerts vielschichtiges Epos über den Dichter Thomas Brasch, »Lieber Thomas« (2021), oder Andreas Dresens Film über den Liedermacher »Gundermann« (2018), der kritische Lieder sang und doch für die Stasi spionierte, die Klischeeklippe zu umschiffen. Auf der einige Filme der letzten Jahre mit ihren Figuren gestrandet sind. 

Als Leander Haußmann 1999 »Sonnenallee«, seine Geschichte vom Erwachsenwerden jenseits des Eisernen Vorhangs in den siebziger Jahren, vorstellte, sagte er, es habe nicht nur die Stasi und die Verfolgten gegeben, sondern auch die »90 Prozent dazwischen«,  gewissermaßen die Parallelwelt derjenigen, die ihren Alltag am System vorbei lebten.  

»Sonnenallee«, den Kritiker auch als einen Vorreiter in Sachen »Ostalgie« sehen, hatte 2,6 Millionen Besucher, Wolfgang Beckers »Good Bye, Lenin!« sogar 6,5 Millionen. »Das Leben der Anderen« (2006) von Florian Henckel von Donnersmarck, ein Stasithriller, konnte sogar einen Oscar einheimsen. Viele haben ihm damals einen allzu freien Umgang mit den historischen Fakten vorgeworfen. Christian Petzolds »Barbara« wiederum, der 2012 auf der Berlinale den Regiebären gewann, empfanden viele Kritiker als stimmig.

Die Frage nach der Authentizität der Personen und Verhältnisse lässt sich natürlich auch an die gesamte staatlich gelenkte Filmproduktion der DDR stellen, die sowohl Vor- als auch Nachzensur kannte. Frank Beyers großartiger »Geschlossene Gesellschaft« (1978) etwa, der im Stil eines Kammerspiels auch die Stagnation gesellschaftlicher Verhältnisse beschrieb, verschwand bis 1989 im Giftschrank, der Regisseur arbeitete danach vornehmlich im Westen.

Die Gesellschaftskritik in diesem Film ist nie dick aufgetragen, sondern sehr subtil. Man muss die ungewöhnlicheren Filme der DEFA auch »lesen« können. Andreas Dresen jedenfalls, ein präziser Beobachter ostdeutscher Befindlichkeiten nach der »Wende«, hat an den besseren Filmen der DEFA die Liebe zu den einfachen Menschen und ihren Humanismus gelobt. 

Wir haben Filmschaffende mit »Ostbezug« gefragt, welche Filme, gleich aus welcher Ära, sie als besonders wahrhaftig empfinden. Interessanterweise stammen die meisten der Nominierten aus der Zeit der DDR. Ganz ohne »Ostalgie«.

»Spur der Steine« (Frank Beyer, 1966)

Alexander Scheer
Schauspieler und Musiker, * 1976 in Ostberlin

»Es ist zum Heulen. Der Film kam 1966 zur richtigen Zeit ins Kino und wurde sofort verboten. Da war die DDR noch nicht mal volljährig.

Heute betrachtet, nimmt jenes Verbot das Ende dieses Landes bereits 10 Jahre vor der Ausbürgerung Biermanns vorweg. 

Nie ist mit mehr Idealismus und letztlich erfolgreicher darum gerungen worden, gesellschaftliche Gegenwart im Film tatsächlich abzubilden.
Nie wurde im deutschen Kino direkter gespielt, Dialoge wurden nie gerader gesprochen. Nie war Manfred Krug so sehr eine Klasse für sich.

Im Ergebnis ist dieser Film jedoch nie im Jetzt angekommen, fand nie sein Publikum. Ein Western des Sozialismus, der für immer zeitlos zwischen den Epochen hängt. Ein schwarz-weißes Monument der Vergeblichkeit. Wer etwas vom Osten wissen will, mache sich auf die Suche nach der Spur der Steine.«

Katrin Sass
Schauspielerin, * 1956 in Schwerin

»Die Filme der DDR waren besonders – wenn man zwischen den Zeilen gelesen hat. »Spur der Steine« habe ich damals nicht gesehen, weil er verboten wurde. Dann kam er nach der Wende heraus. Und man fragt sich: Wo haben wir gelebt? Es scheint alles so lapidar aus heutiger Sicht, dass man es kaum mehr fassen kann. Für mich war es eine Erinnerung an eine Zeit, in der es mich noch gar nicht gab in diesem Beruf. Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie es gewesen wäre, wenn er normal gelaufen wäre. Das konnten sie sich nicht erlauben? Aber für die damalige Zeit war es tatsächlich sehr, sehr mutig.«

Ronald Zehrfeld
Schauspieler, * 1977 in Ostberlin

Die ersten Filme, die mir dazu einfallen: »Spur der Steine« mit Manfred Krug als Brigadeleiter Hannes Balla, gefolgt von »Solo Sunny«. Aber die spannende Frage ist doch: Welche Filme sind nach dem Mauerfall gewissermaßen im »Giftschrank« gelandet, welche Filme über die DDR bekommen die Zuschauer nicht zu sehen, die aber sehenswert wären– und die im Zuge der Einigung unter den Teppich gefallen sind? Ich denke, dass wir Bedarf haben, uns einfach die Filme der DEFA, Filme, die in der DDR entstanden sind, noch einmal zu Gemüte zu führen. Da sind sicher Diamanten zu entdecken.«

»Stau – Jetzt geh's los« (Thomas Heise, 1993)

Christian Schwochow
Regisseur und Drehbuchautor, * 1978 in Bergen auf Rügen

Ich empfehle jedem diesen Film aus der Halle-Neustadt-Trilogie von Thomas Heise – ein Dokumentarfilm von 1992 über rechtsextreme Jugendliche in einer ehemaligen DDR-Mustersiedlung. Heise, der im Mai gestorben ist, hat einen einzigartigen und tiefsinnigen Blick auf Menschen im Osten geworfen, ohne sie zu bewerten. 

Als jemand, der selbst im Osten aufwuchs, hat mir sein Werk eine neue Perspektive und ein tieferes Verständnis dieses Landes vermittelt. Leider ist Thomas Heises Werk wenig bekannt, besonders im Westen Deutschlands. Seine Arbeiten liefen selten in westdeutschen Kinos. Das ist bedauerlich, denn Heise ist ein ganz besonderer Chronist des Ostens und damit auch Deutschlands.«

»Solo Sunny« (Konrad Wolf, 1980)

Andreas Dresen
Regisseur, * 1963 in Gera

»Die Schlagersängerin Sunny träumt von ihrem Solo. Ein wunderbarer, rührender, verzweifelter und oft auch komischer Blick auf ein Land, in dem Angepasstheit jeder Individualität ihre Grenzen setzt. Mit tollen Dialogen und vielschichtigen Figuren, großartiger Filmmusik von Günther Fischer und einer umwerfenden Renate Krößner als kratzbürstig-verletzliche Sunny, als bunter Vogel in einer Welt ohne Amplituden. Für mich einer der besten DEFA-Gegenwartsfilme.«

»Wittstock-Zyklus« (Volker Koepp, 1975–1997)

Helke Misselwitz
Regisseurin, * 1947 in Planitz

»›Also, einen Spielfilm stell ich mir so vor‹, sagt Elsbeth, die alle Stupsi nennen, gerade mal 18 Jahre alt. Sie beschreibt ein Szenarium aus Liebe, Verrat, Versöhnung, auch was von der Arbeit, nicht haltmachen beim Happy End und vor den Konflikten, zusehen, wie die Familie wächst. – Es ist, als hätte der Regisseur Volker Koepp sich Stupsis Szenarium zu Herzen genommen. Nur dass er ganz viel von der Arbeit erzählt, der Arbeit der Textilarbeiterinnen Stupsi, Edith und Renate im Obertrikotagenbetrieb ›Ernst Lück‹ in Wittstock, in der Prignitz. Der Arbeit, die sie selbstbewusst macht und deren Produktionsabläufe sie unermüdlich, manchmal verzweifelt kritisieren. Immer wieder, zwischen 1975 und 1997, sehen wir dem Leben der drei Frauen zu, den Vergeblichkeiten und Verlusten und den seltenen Momenten von Glück. Dass Schönheit aus Wahrhaftigkeit entsteht, wie es Koepp mit dem Dokumentarfilmzyklus »Wittstock« beweist, hat kein Spielfilm über das Leben in der DDR und der nachfolgenden Umbruchszeit derart erreicht.«

»Gundermann« (Andreas Dresen, 2018)

Martin Brambach
Schauspieler, * 1967 in Dresden

»Ich halte »Gundermann« von Andreas Dresen für einen der besten Filme über die DDR. Die Ambivalenz der Hauptfigur ist grandios: Gerhard Gundermann, ein Musiker, der auch nach dem Mauerfall mit seiner Musik berührt und den seine Stasivergangenheit einholt, der aus Liebe zur Heimat als Informant arbeitete und ebenfalls bespitzelt wurde. Eine brillante Geschichte, diese herrlich poetische Musik, die es nur in der DDR gab, und das Ganze spielt auch noch in einem Tagebau . . . ein großartiger und vielschichtiger Film!«

Ursula Werner
Schauspielerin, * 1943 in Eberswalde

»Dieser Film behandelt in ehrlicher Stellungnahme die Kompliziertheit und Wahrheitsfindung eines der heikelsten­ Themen der DDR: Stasitätigkeit! Großartige Darsteller, besonders Hauptdarsteller ­Alexander Scheer, in hervorragender Regieführung! Unbedingt anschauen!« 
 

 

»Spuk unterm Riesenrad«/»Spuk im Hochhaus« (ab 1979)

Max Riemelt
Schauspieler, * 1984 in Ostberlin»

Mein Tipp: die Kinderserie, die in der DDR in den späten Siebzigern und in den Achtzigern lief.  Man sieht hier sehr gut den Osten, wie er damals war – wenn zum Beispiel  die zum Leben erweckte Geisterbahnhexe mit dem Staubsauger über den Alex fliegt. Da sind richtig schöne Bilder dabei. Einer meiner Lieblingsfilme ist im Übrigen »Baby«, ein Krimi von Uwe Frießner, nicht aus dem Osten, aber ziemlich nah dran, der Held lebt im Märkischen Viertel und ist Türsteher auf dem Ku'damm: Auch da ist wunderbar Berlin eingefangen.« 

»Alarm im Kasperletheater« (Lothar Barke, 1960)

Grit Lemke
Autorin und Regisseurin, * 1965 in Spremberg/Niederlausitz

»Im Ernst, den Osten mit ­EINEM Film erklären? Bekommen wir dann von euch auch ­EINEN Westfilm genannt? Also, in Anbetracht der Unmöglichkeit habe ich versucht nachzudenken, was denn ALLE­ Ostmenschen, egal welcher Generation, geprägt hat. Da kommt man schnell auf den Teufel, der Omas Pfannkuchen klaut und mit Bauchschmerzen bestraft wird (übrigens vom ›Walt Disney des Ostens‹ Lothar Barke). Merke: Was allen gehört, sollst du dir nicht einverleiben. Teilen statt gierig sein. Ergibt irgendwie eine Weltsicht. Und nun wisst ihr auch, was der Ossi meint, wenn er sagt (was er gern macht): ›Er hat sie ALLE auf­gegessen.‹ Oder:­ ›Oh. Mein Bauch!‹ Bitte schön!‹«

»Die Beunruhigung« (Lothar Warneke, 1982)

Annika Pinske
Regisseurin und Drehbuchautorin,* 1982 in Prenzlau

»Meine Empfehlung: Lothar Warnekes unkonventioneller Low-Budget-Film mit der wunderbaren Christine Schorn als Inge Herold in der Hauptrolle. Der Film ist von 1982 und zeichnet das Porträt einer Frau, die modern, vielschichtig, fehlbar und so unkonventionell ist, dass ich mich manchmal frage, wieso ich 40 Jahre später immer noch mit so vielen stereotypischen Frauenfiguren in Geschichten zu tun haben muss. Inge Herold, Psychologin und alleinerziehende Mutter, erkrankt an Brustkrebs, beginnt nach der Diagnose, ihr bisheriges Leben und ihre Rolle darin zu hinterfragen, und stellt sich im Zuge dessen als Frau neu auf.  »Die Beunruhigung« gehörte zu den besucherstärksten DEFA-Filmen in der DDR, sicher auch, weil er tief in das Leben seiner Protagonistin  – und mit ihr in das Leben vieler Frauen in der DDR – blicken lässt. Christine Schorn schuf eine so eindringliche Frauenfigur, eine echte Herzensempfehlung! Den Film kann man übrigens kostenlos auf dem Youtube-Kanal der Defa-Stiftung sehen.«

Sandra Hüller
Schauspielerin, * 1978 in Suhl

»Ein supermoderner Film, überhaupt nicht gefällig, komplex, unglaublich schön. Christine Schorn ist darin umwerfend.«
 

 

»Good Bye, Lenin!« (Wolfgang Becker, 2003)

Christian Friedel
Schauspieler, Regisseur, Musiker, * 1979 in Magdeburg

»Dieser liebevolle Film erzählt auf lustvolle und wunderbare Weise von den Veränderungen nach der Wende und spielt mit den Klischees über den Osten und den Westen. Das fantastische Ensemble wirft sich in diese Komödie, ohne die Figuren bloßzustellen oder komisch sein zu wollen. Berührend und inspirierend wirkte das auf mich in meiner Jugend und erinnerte mich an meine Kindheit in der DDR und an meinen Großvater, der so sehr an dieses System glauben wollte und sich doch eingestehen musste, dass es leider nicht funktionierte.«

Aktuell im Kino

Soeben angelaufen ist »Zwei zu eins« von Natja Brunckhorst, eine Mischung aus Sommerkomödie, Liebesgeschichte und Heist-Thriller um ein nach der Wende wertlos gewordenes DDR-Papiergeldvermögen. Zum großartigen Ensemble gehören Sandra Hüller, Max Riemelt, Ronald Zehrfeld, Martin Brambach und Ursula Werner.

Am 29. August startet Torsten Körners Dokumentarfilm »Die Unbeugsamen 2 – Guten Morgen, Ihr Schönen!« In »Die Unbeugsamen« hatte Körner Politikerinnen der Bonner Republik porträtiert; nun lässt er 15 in der DDR sozialisierte Frauen aller Berufsgruppen, darunter Katrin Sass, erzählen.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt