Catherine Corsini im Interview

Jede persönliche Geschichte hat auch etwas Universelles
Catherine Corsini. Foto: Christophe Archambault

Catherine Corsini. Foto: Christophe Archambault

Regisseurin Catherine Corsini spricht im Interview über traumatische Familiengeschichten, ihre korsischen Wurzeln und den langen Weg zu der teils autobiografischen Geschichte, die sie in ihrem neuen Film »Rückkehr nach Korsika« erzählt

Als Catherine Corsini in den Achtzigern ihre ersten Filme drehte, galten Frauen auf dem Regiestuhl noch als Ausnahme. Und damit auch der spezifisch weibliche Blick auf unkonventionelle Frauenfiguren, die bei der 1956 geborenen Regisseurin seit je im Mittelpunkt stehen. Wie die junge Frau in »Die neue Eva«, die alles daransetzt, einen verheirateten Mann zu erobern. Die Komödie lief 1999 auf der Berlinale und machte Corsini nach mehreren Fernsehfilmen auch international bekannt. Es folgten weitere Komödien, wie »Mariées mais pas trop« mit Jane Birkin und »Ambitious«, mit denen sie nicht an den früheren Erfolg anschließen konnte. Das änderte sich 2009 mit dem Liebesdrama »Die Affäre«, in dem Kristin Scott Thomas als verheiratete Frau brilliert, die eine Liaison mit einem Bauarbeiter beginnt. 

Danach wurden Corsinis Filme persönlicher; sie handelten verstärkt auch von lesbischem Begehren und gleichgeschlechtlichen Beziehungen, wie das in den 1970ern angesiedelte Drama »La belle saison: Eine Sommerliebe« (2015), das die Liebe zwischen einer jungen Frau vom Land und einer Pariser Feministin in ein Gesellschaftsporträt der damaligen Frauenbewegung einbettet. In der Tragikomödie »In den besten Händen« über ein sich ständig streitendes Paar (Valeria Bruni Tedeschi und Marina Foïs), die 2021 in Cannes mit der Queer Palm ausgezeichnet wurde, erzählt Corsini eine Geschichte ihrer Generation im Paris der Gegenwart, die das Private mit der sozialen Wirklichkeit zwischen Klinikstreik und Gelbwestenbewegung verbindet. Ihr neuer Film »Rückkehr nach Korsika« nun handelt von einer Mutter und ihren beiden jugendlichen Töchtern, die nach 15 Jahren in Marseille auf die Mittelmeerinsel zurückkehren, die sie damals fluchtartig verlassen hatten. Indem sie ihre traumatische Kindheit auf Korsika und ihr gespaltenes Verhältnis zur Insel thematisiert, wendet sich Corsini zugleich ihrer eigenen Vergangenheit und einer jungen Generation von Frauen zu.  

Madame Corsini, was hat Sie dazu bewogen, sich mit Ihrem neuen Film der eigenen Familiengeschichte zu stellen?

Catherine Corsini: Dass es da eine Lücke gibt, die mich nicht loslässt und bis heute prägt. Als mein Vater mit 26 Jahren bei einem Autounfall starb, trennte mich meine Mutter, die erst 24 war, von meiner korsischen Familie. Wahrscheinlich war es für sie zu schmerzhaft, dorthin zurückzukehren. Ich vermisste Korsika sehr und betrat die Insel erst spät wieder, mit 15. Ich verbrachte zwei Wochen im Sommer dort mit der Familie meines Vaters. Das war eine sehr traumatische Erfahrung für mich, weil ich Fotos von meinem Vater sah, die ich nicht kannte, weil jeder mir von meinem Vater erzählte. Das war sehr berührend, aber nachts im Bett weinte ich viel, hatte Panikattacken. Ganz ähnlich wie Jessica im Film. Ich wollte nur weg von dort, vor dem Übergriff dieser Familie fliehen, ich hatte das Gefühl, daran zu ersticken. Ich fand es erdrückend, wie meine Mutter als »Witwe« bezeichnet wurde. Und ich setzte tatsächlich jahrelang nie wieder einen Fuß auf die Insel. Erst mit 33 kehrte ich zurück, mit einem korsischen Freund. Seitdem war ich jedes Jahr wieder dort.

Wie haben sich im Lauf der Zeit Ihre Haltung und Perspektive verändert?

Mit jedem Besuch wurde ich weniger Touristin, interessierte mich immer tiefgründiger für das Dorf meines Vaters, beschäftigte mich mit Korsika und seiner Geschichte. Es war immer eine arme Region, die Menschen hatten sehr wenig Geld. Viele junge Menschen verließen die Insel, gingen nach Frankreich. Sie wanderten auf den Kontinent aus, um Arbeit zu finden, sich einen gewissen Wohlstand aufzubauen und mit dem Wunsch, im Rentenalter zurückkehren zu können. Heutzutage wollen viele Menschen dort ihre Heimat nicht aufgeben und bleiben. Aber es herrscht nach wie vor eine hohe Arbeitslosigkeit. Ein Großteil wünscht sich Unabhängigkeit von Frankreich, nicht nur einen autonomen Sonderstatus. Die Insel wehrt sich gegen ungezügelten Tourismus, gegen das Verbauen der Küsten und dagegen, dass Touristen unkontrolliert Immobilien kaufen. Es ist eine Insel der Kontraste, man sieht es auch in der Natur, zwischen den Bergen und dem Meer. Und ich glaube, diese Kontraste, dieses Widersprüchliche trage auch ich in mir. 

Sie haben sich dann viel Zeit gelassen mit dieser Geschichte. 

Weil es lange gedauert hat, bis ich mir alles bewusst gemacht habe. Der Film hat es mir ermöglicht, um meinen Vater zu trauern und mich mit Korsika zu versöhnen. Ich wollte ein Porträt dieser Insel mit ihren Gegensätzen zeichnen. Die Korsen sind vielschichtiger als das fremdenfeindliche Image, das ihnen oftmals anhaftet. 

Ihr Film handelt vom Erwachsenwerden zweier Teenagermädchen und von der Vergangenheit der Mutter, aber auch von Rassismus und dem Verhältnis zwischen Korsika und dem Festland. Was stand dabei für Sie im Vordergrund?

Für mich ist es eine Art falscher Sommerfilm. Man hat das Gefühl, dass er vom Erwachsenwerden erzählt, aber unter der Oberfläche geht es um Fragen der Zugehörigkeit und der Macht der Herkunft. Woran liegt es, dass diese Mädchen Dinge ganz unterschiedlich ­erleben und wahrnehmen? Sie suchen nach derselben Sache und kommen zu ganz unterschiedlichen Antworten. Jessica versucht, am Ort ihrer Kindheit ihre Erinnerungen wiederzufinden. Sie ist ehrgeizig, versucht sich zu integrieren, ihr könnte der soziale Aufstieg gelingen. Zugleich entdeckt sie ihre Sexualität, verliebt sich in eine Frau. Farah dagegen ist die Rebellin, sie begehrt auf, überschreitet Grenzen. Auch das beruht auf meinen persönlichen Erfahrungen. 

Inwiefern?

Meine beiden Schwestern und ich gingen sehr unterschiedlich mit dem Verlust unseres Vaters um. Während die ältere, die bei seinem Tod fünf war, keinerlei Erinnerungen an ihn hat, kann sich die jüngere, die damals erst drei war, sehr wohl an diese Zeit erinnern. Die ältere leidet sehr darunter, sich kein Bild von ihrem Vater und ihrer Kindheit machen zu können. Dasselbe gilt im Film für Jessica und Farah. Die eine kann sich erinnern, die andere nicht. Farah freundet sich mit einem Mann aus Korsika an. Wie sie mit ihrer Vergangenheit umgeht, hilft wiederum ihrer Mutter, sich aus dem Käfig zu befreien, den sie sich selbst gebaut hat. 

Wie herausfordernd war es, diese persönliche Erfahrung in Kunst umzuwandeln?

Eine fiktionale Geschichte ermöglicht es mir, Distanz zu schaffen, um mit den Emotionen umzugehen, um das zu verarbeiten, was ich entdeckt habe oder was passiert ist, um bestimmte Szenen noch einmal anders zu erleben. Ich bin 67 Jahre alt und es war ein langer Weg bis hierher, um diesen Film zu machen. Man braucht Zeit, zu trauern und den Verlust zu verarbeiten. Es war ein ständiger Kampf, diesen Film zu machen und auf Korsika zu drehen, mit meiner Vergangenheit und meiner Herkunft umzugehen. Es war ein sehr wichtiger Prozess für mich. 

Dabei kann schnell der Eindruck einer Selbstbespiegelung und Nabelschau entstehen. Wie sind Sie damit umgegangen?

Ich glaube, dass eine persönliche Geschichte immer auch etwas Universelles hat. Denn in jeder Familie gibt es Traumata, gibt es Geheimnisse, gibt es Lügen. Aus diesem Grund habe ich auch schwarze Schauspielerinnen besetzt, weil ich glaube, dass es viele Dinge gibt, die uns verbinden und zusammenhalten. Wenn man wie ich ein gewisses Alter erreicht und schon viele Filme gedreht hat, gibt es einen sehr schmalen Grat zwischen sich selbst und den Geschichten, die man erzählen möchte.

Wie haben Sie mit den beiden jungen Hauptdarstellerinnen gearbeitet, die zuvor kaum schauspielerische Erfahrung hatten? 

Zunächst mit viel Improvisation und drei Wochen Arbeit mit einem Coach, um Vertrauen zu schaffen. Wenn man mit sehr jungen Schauspielern arbeitet, neigt man dazu, sie aufgrund der Ähnlichkeiten auszuwählen, die sie mit ihren eigenen Figuren haben könnten. Man besetzt nicht gegen den Strich. Es ging eher darum, untereinander ­eine Beziehung herzustellen und ihre gemeinsame Familiengeschichte zu entwickeln, ihre Vergangenheit zu erfinden.

Das Drehbuch haben Sie gemeinsam mit Naïla Guiguet geschrieben, einer jungen Filmschulabsolventin mit senegalesischen Wurzeln. Wie haben Sie sich dabei ergänzt?

Sie ist mit ihren 25 Jahren viel näher dran am Lebensgefühl der jungen Generation, das war mir wichtig beim Schreiben. Und auch ihre Perspektive als Tochter einer Frau, die aus dem Senegal stammt, hat sehr geholfen, die Geschichte und ihre Charaktere zu erzählen. Sie erkennt sich sowohl in Farah und ihrer rebellischen Seite, die sie auch als Jugendliche hatte, als auch in Jessica und ihrem Werdegang als Klassenflüchtling wieder. 

Es ist der fünfte gemeinsame Film mit Kamerafrau Jeanne Lapoire. Wie haben Sie diesmal die Bildästhetik entwickelt?

Wir sind schon früh zusammen nach Korsika gereist, um geeignete Drehorte zu finden. Mir war wichtig, dass das Dorf meines Vaters vorkommt, Castifao im Norden der Insel. Und Jeanne hat sofort die visuellen Reize der Gegend entdeckt, das Schroffe der felsigen Berge, das gleißende Licht, das brutal sein kann. Man sollte die Hitze förmlich spüren. Ich wollte, dass die Landschaft fast greifbar zu spüren ist und selbst zum Charakter wird, durch den die Geschichte erzählt wird. Aber im Zentrum stehen die Figuren und ihre Gesichter, deswegen entschieden wir uns, im klassischen 1:1,66-Format zu drehen statt Cinemascope.

Ihr Film handelt auch vom Band zwischen Mutter und Töchtern. Wie hat sich das Verhältnis zu Ihrer Mutter im Laufe der Jahre gewandelt?

Meine Einstellung zu ihr hat sich nicht verändert, ich sehe sie noch immer auf die gleiche Weise, obwohl sie vor kurzem ins Pflegeheim gezogen ist. Sie ist immer noch bei klarem Verstand; Zeit ihres ­Lebens war sie eine sehr temperamentvolle Frau, ziemlich besitzergreifend, und es ist nicht einfach, ihre Tochter zu sein. Aber mir ist auch bewusst, dass sie viel Leid erfahren hat.
 

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