Die Kunst des Entgegenkommens
Vor ein paar Tagen kam mir ein Wort in den Sinn, von dem ich mich wundere, dass ich es seit so langer Zeit nicht mehr gehört oder gelesen habe. Es bürgerte sich hier zu Lande vermutlich etwa zu jenem Zeitpunkt ein, als das deutsche Publikum erstmals Musicals entdeckte und verblüfft feststellen musste, dass es noch einen dritten Weg neben Oper und Operette gibt. Da war es plötzlich mit Songs von hohem Wiedererkennungswert konfrontiert, auf die hiesige Begriffe wie »Gassenhauer« oder »Ohrwurm« nicht passten. Ich glaube, in diesem Moment freundete es sich mit der Vokabel »Evergreen« an.
Michel Legrand hat viele Chansons und Songs geschrieben, die sich über die Jahrzehnte ihre Frische erhalten haben. Titel wie »The Windmills of your mind« besitzen die Gabe, sich mit jeder neuen Interpretation zu verjüngen. Aber egal, ob sie von Tony Bennett oder Barbra Streisand, Jessye Norman oder Natalie Dessay gesungen werden, ihre Romantik bleibt unversehrt. Aus ihnen klingt optimistische Wehmut. Sie sind auf elegante und komplexe Weise zugänglich: Sie kommen dem Publikum entgegen, ohne ihm zu schmeicheln. Einige seiner Songs sind sogar berühmter als die Filme, für die er sie komponierte – wie etwa »What are you doing the rest of your life?« aus Richard Brooks' »Happy-End für eine Ehe«, der gewiss heute als ein Meisterwerk des feministischen Kinos gefeiert würde, hätte er nicht das Pech gehabt, ein paar Jahre zu früh entstanden und von einem Mann inszeniert worden zu sein. Falls Sie geneigt sind, derlei geschmeidigen Wohlklang für Fahrstuhlmusik halten, lassen Sie sich sagen, dass Legrand auch mit John Coltrane, Bill Evans sowie Ben Webster gearbeitet und Partituren für Godard, Joseph Losey, Agnès Varda und Orson Welles komponiert hat. Wenn er ein Eklektiker ist, dann ein redlicher. Seine Musik klingt immer unverwechselbar nach Legrand.
Gestern Abend trat der 83jährige in Berlin im Konzerthaus am Gendarmenmarkt auf. Diesem Konzert fieberte ich schon seit Monaten entgegen. Als Filmkomponist war der Franzose für mich stets ein faszinierender, unberechenbarer Außenseiter. Die Liste der Regisseure, die mit ihm arbeiten wollten, spricht für sich: Clint Eastwood, Richard Lester, Robert Mulligan und viele andere. Jeden seiner drei Oscars (für »Thomas Crown ist nicht zu fassen«, »Sommer 42« und »Yentl«) gönne ich ihm von Herzen. Die Entdeckung seiner Filme mit Jacques Demy spielte in meiner cinéphilen Herzensbildung eine Rolle, die so wichtig ist, dass ich sie selbst kaum fassen kann. Anouk Aimées keckes Chanson aus »Lola« geht mir so oft durch den Kopf wie das perlende Thema aus »Die blonde Sünderin«, das haargenau so klingt wie eine Kugel beim Roulette. Mit »Die Regenschirme von Cherbourg« und »Die Mädchen von Rochefort« schließlich haben der Regisseur und sein Komponist für das Kino noch einen vierten Weg neben Oper, Operette und Musical erfunden.
Umso größer war meine Bestürzung darüber, wie spärlich das Parkett und die Ränge im Saal besetzt waren: Gibt es in Deutschland wirklich so wenige Film- und Musikliebhaber, die meine Liebe teilen? Eine etwaige Enttäuschung ist Legrand selbst nicht anzumerken. Er ist entzückt vom Prunk des Großen Saales im Konzerthaus, obwohl sein Trio an einem kleineren, intimeren Ort sein Trio sicher besser aufgehoben wäre. Es sei ein freudiges Erlebnis für ihn, hier zu sein, bekräftigt er. Dieses »joyous«, mit dem er seine Gefühle beschreibt, klingt aufrichtig. Er ist ein dankbarer Gast.
Man merkt sofort: Er wäre dem Publikum gern näher, als es die Architektur zulässt. Den Abstand verringert er mit Worten und Gesten; seine Musik schafft ohnehin Vertraulichkeit. Obwohl Legrands Lieder weltberühmt sind, ist es an diesem Abend so, als habe sich eine Schar von Eingeweihten zusammengefunden. Manchmal stellt ein halbleerer Saal eben eine besonders innige Verbindung zwischen Künstlern und ihrem Publikum her: Beide geben sich nun vielleicht doppelt so viel Mühe. Legrands Trio hätte sich vor vollen Reihen zweifelsohne ebenso sehr ins Zeug gelegt. Aber das Glück, das ihre Zuhörer empfinden, verteilt sich großzügiger unter ihnen.
Er tritt, man mag es kaum glauben, zum ersten Mal in Deutschland auf. Mit höflicher Bescheidenheit stellt er die Lieder zuerst vor. Das wäre, würde er in Frankreich, England, den USA oder Japan auftreten, nicht nötig. Insgeheim darf er voraussetzen, dass die meisten von ihnen auch hier bekannt sind. Aber als er »La valse des lilas« ankündigt, das erste Chanson, das er je geschrieben hat, ist er ganz erstaunt, dass jemand im Publikum applaudiert: »Sie kennen es? Woher kennen Sie es?« Manchmal erhebt er sich nach dem Ende eines Stückes: in stolzer Demut. Von seinen Oscars ist nie die Rede. Es geht nur um die Musik. Wenn er über Entstehung oder Herkunft der Lieder spricht, dann erzählt er keine Anekdoten, sondern erinnert an die Musiker, mit denen er sie einmal einspielte. Die Begegnung mit Miles Davis bedeutete ihm ungeheuer viel. Ihm sind gleich zwei Stücke gewidmet. Auch an diesem Abend hat er großartige Mitspieler. Die Zwiesprache mit seinem Bassisten beim Chanson von Maxence aus »Die Mädchen von Rochefort« (auf Englisch wurde es unter dem Titel »You must believe in Spring« berühmt) ist atemraubend. Sein Schlagzeuger ist ein ebenso geistesgegenwärtiger und erfinderischer Rhythmiker. »Egal was ich mache«, klagt Legrand einmal vergnügt an diesem Abend, »diese beiden Gangster verwandeln es in Jazz.«
Das ist ihm nur recht. Er hat zwar eine klassische Ausbildung genossen, aber im Herzen ist er ein Jazzpianist geblieben. Er liebt die Freizügigkeit dieses Idioms, die selbst die bekannteste Melodie in etwas Fremdes verwandeln kann. In den letzten Jahren hat er sich darauf verlegt, sein Repertoire zu pflegen, hat beispielsweise seine Demy-Filme für Theater und Konzertsaal neu adaptiert. Wie Burt Bacharach auf seinen Tourneen der letzten Jahren (die offenbar auch nie nach Deutschland führen) scheint er dazu verdammt, seine großen Hits zu spielen. Aber das ist eine heitere Verdammnis. Regelmäßig befeuchtet er seine Fingerkuppen mit der Zunge, als würde er nicht auf Tasten schlagen, sondern die Seiten eines Buches umblättern. Diese künstlerische Spätphase des Bewahrens stelle ich mir so dynamisch vor wie die unentrinnbaren Kreisbewegungen, von denen die Verse zu »The Windmills of your mind« künden: »Round / like a circle in a spiral / like a wheel within a wheel / never ending or beginning / like an ever-spinning wheel....«.
Auch an diesem Abend greift er auf seine bekannten Lieder zurück. So viel Nostalgie ist er dem Publikum wohl schuldig. Selbstgenügsam ist der Wiedererkennenswert jedoch nicht. Legrand will die alten Lieder neu entdecken, sie auseinander nehmen und neu zusammensetzen. Sie inspirieren ihn nach wie vor. Das Chanson aus den »Regenschirmen«, das im anglo-amerikanischen Raum als »Watch what happens« bekannt wurde, dekliniert er im Stil großer Jazzpianisten durch: zuerst so, wie Art Tatum es gespielt hätte, dann Duke Ellington, Erroll Garner, George Shearing und, als Schlusspointe, in der schmissigen Count-Basie-Variante. Sie alle seien ihm in einem Traum erschienen, erzählt er. Das Liebesthema aus den »Regenschirmen« wiederum legt er als Experiment an: nach jeweils 16 Takten wechselt er das Tempo und die Tonlage. So erwacht es unversehens als Walzer, dann als Tango zu neuem Leben. Seine Gesangsstimme, auch das hat er mit dem immergrünen Bacharach gemeinsam, ist dünn und brüchig. Die Akustik verhindert es mitunter, dass man ihn genau versteht. Das stört ein wenig, aber das Publikum hängt trotzdem an seinen Lippen. »Ich höre älteren Sängern und Sängerinnen gern zu,« sagt meine Begleiterin, »ihre Stimmen haben viel zu erzählen.«
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