Auch verirrte Kugeln treffen ein Ziel

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Generell wäre ich wohl immer eher bereit, Alain Resnais als Federico Fellini recht zu geben. In einem Punkt jedoch muss ich mich dem Italiener anschließen. Welches Privileg es ist, sich zwischen zwei Ratgebern von solch hohen Graden entscheiden zu müssen!

Beide Filmemacher waren ausgewiesene, leidenschaftliche Liebhaber von Comics. Fellini war es schon zur Zeit des Faschismus, als er in den US-Strips Helden vorfand, die ihm wahrhaftiger erschienen als jene, die das Mussolini-Regime seinen Landsleuten aufzwang. Resnais hegte eine für ihn charakteristisch kulinarische und aufwertende Begeisterung für sie. Immerhin verfolgte er ernsthaft und über einige Jahre hinweg ein gemeinsames Filmprojekt mit Stan Lee. Seine Zusammenarbeit mit Jules Feiffer brachte »I want to go home« hervor, der leider ausgerechnet der einzige Resnais-Film ist, der mir nicht sonderlich gefällt.

Der Franzose war von der inneren Verwandtschaft von Kino und Comic weit mehr überzeugt, als ich es bin. Je mehr ich mich mit diesem Verhältnis beschäftige, desto größer erscheinen mir die Unterschiede. Die Wahrnehmung des Erzählflusses kommt mir ganz anders vor. Im Kino wissen wir beispielsweise nicht, welche Einstellung als nächste kommt. Das Layout von Comic-Seiten hingegen nimmt diese Folge oftmals vorweg: Beim Lesen und Betrachten haben wir schon die nächsten Panels vor Augen. Fellini wiederum war davon überzeugt, dass sich der Eindruck von Comics nicht auf die Leinwand übertragen lässt. Das Kino bezog für ihn seinen Reiz aus der Bewegung, dem Rhythmus, der Dynamik. Das Geheimnis der Comics lag aus seiner Sicht in der Starrheit des Augenblicks, es war »vergleichbar mit der Unbeweglichkeit eines von der Nadel durchstochenen Schmetterlings«.

Trotz aller Gegensätze ist der Comic ein reizvolles und viel zu selten genutztes Medium, um Kinoträume zu verwirklichen: Sie können unverfilmten Drehbüchern ein stolzes Nachleben bescheren. Man denke nur an die Zusammenarbeit von Fellini und Milo Manara, dank der zwei Projekte (»Die Reise nach Tulum« und »Die Reise des G. Mastorna«, 2009 in einer schönen Ausgabe im Panini-Verlag neu aufgelegt) aus der Schublade ihren Weg in die Sichtbarkeit fanden. Die ausgiebige Tätigkeit Alejandro Jodorowskys als Comic-Szenarist legt nahe, dass einige Alben auf Stoffe zurückgehen, die Filmproduzenten als zu exzentrisch erschienen. (Seine gemeinsam mit Moebius geplante Verfilmung von »Der Wüstenplanet« liegt meines Wissens indes nicht als graphischer Roman vor – aber immerhin gibt es einen spannenden Dokumentarfilm über das Scheitern ihres Vorhabens.)

Der rührige Splitter-Verlag in Bielefeld, in dessen Programm sich auch einige Jodorowsky-Fantasien finden, hat nun ein Album herausgebracht, das auf einem alten Drehbuch von Walter Hill beruht: »Querschläger«, dessen Text der Franzose Matz adaptiert hat und dessen Zeichnungen aus der Feder von Jef stammen. Die Drei lernten sich bei den Dreharbeiten zu »Bullet to the Head« mit Sylvester Stallone kennen, der auf einer Bande dessinée der Franzosen basiert, aber bedauerlicherweise dann doch kein Comeback des Regisseurs einläutete. Jef und Matz fragten ihn nach einem unrealisierten Projekt, das sich eventuell für eine Umsetzung anböte. An denen herrschte kein Mangel (es sind offenbar um die 30; gern würde ich übrigens, in der einen oder anderen Form, mal sehen, wie gut Hills legendäres Drehbuch nach James Crumleys »Der letzte echte Kuss« nun wirklich ist) und er grub eines aus, an dem er vor gut drei Jahrzehnten arbeitete. »Balles perdues« heißt das Album im Original, was sich mit »verirrte Kugel«, »Ausreißer« oder eben »Querschläger« übersetzen lässt. Es demonstriert, wie groß die Nähe und der Abstand zwischen beiden Formen visuellen Erzählens sind.

»Querschläger« beginnt einigermaßen großspurig. Die Bilder füllen eine halbe oder eine Drittel-Seite, erst später werden die Panels kleinteiliger. Jefs Layout scheint die Augenblicke anfangs auszudehnen, es zelebriert ihre Stimmung und verdickt den Zeitfluss, bevor es sich daran begibt, eine Geschichte zu erzählen. Man glaubt fast, die Musik zu hören, die Ry Cooder zum Film geschrieben hätte. Diese szenische Konzentration macht eine der Stärken des Albums aus. Ellipsen sind reizvoll gesetzt, gegen Ende gibt es eine furiose Parallelmontage. Dynamik und Rhythmus entstehen in einem graphischen Roman natürlich auf ganz andere Weise als im Kino: Er muss mit weniger Einstellungen auskommen. »Querschläger« ist in schätzungsweise 450 Einstellungen erzählt, eine Verfilmung hingegen wäre aus mindestens vier- oder fünfmal so vielen montiert.

Der Plot, teilweise als Rückblende rekapituliert, handelt von dem Auftragskiller Roy Nash, der eingangs aus dem Gefängnis befreit wird, damit er einen ehemaligen Partner seines Bosses findet, der diesen um Geld betrogen hat. Er begibt sich auf die Spur des Abtrünnigen, die ihn nach Arizona und dann Los Angeles führt. Dieser Held kommt ohne Ehrenkodex aus. Seine Handlungen sind nicht durch Loyalität oder Rache legitimiert, auch tötet er nicht in Notwehr, sondern mit kaltem Blut. Seine Waffe ist kein Revolver, sondern eine Tommy Gun. Auch darin steckt ein Moment der Entzauberung, denn Maschinengewehre kommen traditionell eher in der Hand von Nebenfiguren, anonymen henchmen zum Einsatz. Darin mag ein Moment der Revision stecken, das die Geschichte aber nicht wirklich aufwertet.

Der Reiz des Albums liegt im Atmosphärischen. Der Sepiaton, in dem weite Passagen gehalten sind, verleiht ihm eine Anmutung entschlossener Nostalgie. Wir betrachten die Geschehnisse wie durch einen elegischen Filter. Rauchschwaden der Erinnerungen legen sich schwer über die Seiten. Darin kommen sie dem Schillern von Hills Filmen durchaus nahe. Sie scheinen, selbst wenn sie in der Gegenwart angesiedelt sind, doch immer in einer erloschenen Epoche zu spielen. Diese Geschichte spielt während der Depressionszeit, das Ambiente ist aber noch ganz im Western verwurzelt. Die Silhouette des Monument Valley taucht auf, was weniger an John Ford denn an Sergio Leone denken lässt. Das Spiel mit Lehnprägungen und Zitaten (der Besitzer eines Casino-Schiffes heißt Eddie Marz, beinahe so wie eine Figur aus »Tote schlafen fest«) hält für Genre-Kenner kaum Überraschungen bereit und sie mithin auch nicht bei der Stange. Einige Tableaus könnten aus »Last Man Standing« oder »The Long Riders« stammen.

Der Stoff trägt nicht die Last eines vom Kleinmut eines Produzenten vereitelten Meisterwerks. Diese Geschichte drängt nicht darauf, erzählt zu werden. Sie wurde es schon oft genug. Im Kern ist sie ein Destillat klassischer Noir-Situationen. Dass der Killer an Alain Delon erinnert, schlägt eine elegante Volte im transatlantischen Kulturtransfer. Natürlich muss man augenblicklich an Jean-Pierre Melvilles »Der eiskalte Engel« denken, der seinerseits von diversen Films noir aus Hollywood inspiriert wurde. Die Szenen sind schlicht konstruiert, ohne Widerhaken oder doppelten Boden. Den Dialogen gebricht es an Originalität und Schliff, sie muten allzu expositorisch und zuweilen nachgerade naiv an.

Es ist riskant, Hills Stil noch weiter zu reduzieren. Er operiert ja weitgehend mit Archetypen – ich erinnere mich noch gut daran, wie mir Morgan Freeman einmal in einem Interview dessen Schauspielerführung bei »Johnny Handsome« beschrieb: Sie bestand in einer einzigen, allerdings genialen Regieanweisung, dem Satz »Your character is that hat«. Roy Nash und seine Widersacher hingegen sind keine Figuren, die jenseits ihrer visuellen Präsenz einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen. Auch die Frauen bleiben Stereotypen. Lena, die Roys große, verlorene Liebe sein soll, ist gar eine klaffende Leerstelle im romantischen Arrangement. Es gibt keine unsichtbaren Wunden in dieser Geschichte.

Mein Schweizer Kollege Johannes Binotto hat mehr in dem Album gesehen als ich. Mir erschien Roy Nash nur als ein etwas rüder Puritaner, der die Frauen, die sich ihm in verführerischer Blöße darbieten, schroff zurückweist. Mein Kollege hat darin noch einen anderen, verblüffenden Aspekt entdeckt: die dezidiert feminine Zeichnung der Figur. Tatsächlich sieht Nash wie Alain Delon mit schwerem Lidschatten und Lippenstift aus. Wenn er am Ende einsam in einem dunklen Hotelzimmer zurückbleibt, war für mich seine Geschichte auserzählt. Lohnt es sich, auf eine Fortsetzung zu warten? Nein, dann doch lieber auf ein anderes Drehbuch aus Walter Hills Schublade.

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