Viel geliebt
Seinen letzten Artikel habe ich gerade erst am vergangenen Wochenende gelesen. Es war eine Kritik, nein, eher Würdigung der schwarzen Komödie »Ladykillers«, die in Großbritannien gerade wieder neu herauskommt. Der Text ist charakteristisch für ihn: Man ahnt, dass er im Lauf der Zeit schon unzählige Male über die berühmte Ealing-Komödie geschrieben hat, aber nicht müde wird, es noch ein weiteres Mal zu tun. Er holt ausführlich aus, um ihren historischen Kontext und ihre Entstehungsgeschichte darzulegen – lauter Dinge, die ihm seit Jahrzehnten vertraut waren, deren Schilderung er jedoch eine zeitlose Frische zu geben trachtete.
Philip French, der mehr als ein halbes Jahrhundert als Filmkritiker für den Londoner »Observer« arbeitete, war kein Snob. Er behielt nicht für sich, was für ihn auf der Hand lag, sondern war überzeugt, dass man die Filmgeschichte immer wieder neu erzählen muss, weil jede nachfolgende Generationen ein Recht darauf hat, dass sie ihr mit Verve nahegebracht wird. Gestern morgen ist er im Alter von 82 Jahren einem Herzinfarkt erlegen. Seine Kollegin Catherine Shoard hat ihm einen schönen Nachruf gewidmet, in dem viel über seine menschlichen Qualitäten zu erfahren ist, seine Wärme und Großzügigkeit, seinen Humor und die professionelle Zuverlässigkeit. Ich habe ihn nie persönlich kennengelernt, aber die Nachricht erfüllt mich mit einer Traurigkeit, wie ich sie nach dem Tod eines guten Bekannten empfinden würde. Vor zwei Jahren hatte er sich zwar offiziell in den Ruhestand verabschiedet, schrieb aber weiterhin wöchentlich und mit agiler Nostalgie über DVD-Veröffentlichungen und Reprisen.
Das much loved in der Überschrift des Nekrologs ist erstaunlich. Es gehört nicht unbedingt zur Berufsbeschreibung eines Filmkritikers, von aller Welt geliebt zu werden. Aber im Falle von Philip French trifft dies auf einzigartige Weise zu. Man bleibt nicht bis zum 80. Geburtstag auf einem Posten, nur weil man um jeden Preis an ihm festhalten will. Ich vermute, es waren vielmehr die Leser, die ihn nicht gehen lassen wollten. Sie werden heilfroh gewesen sein, dass er sich vor zwei Jahren noch nicht endgültig verabschiedete. Über Jahrzehnte konnten sie ihm vertrauen, seinen Einschätzungen und der Transparenz, die er ihnen beim Schreiben verlieh. French formulierte keine hochtrabenden Theorien, denen sich die Filme gefälligst zu fügen hatten, sondern schrieb mit cinéphilem Elan und historischer Präzision über sie. Er war ein begnadeter, gewitzter, kenntnisreicher Vermittler. Er hoffte auf das Wohlwollen der Leser, ihre Bereitschaft, sich auf den jeweiligen Film einzulassen. Tatsächlich kann ich mich kaum an Verrisse aus seiner Feder erinnern. Da mag mich mein Gedächtnis etwas täuschen, aber steht für mich fest, dass er kein Scharfrichter, sondern ein Anwalt des Kinos war.
Erstmals bin ich seinem Namen Ende der 1970er begegnet: als Autor eines der grundlegenden Bücher über den Western. Die zweite Ausgabe von 1977 müsste dringend neu geleimt werden, aber sie hat einen Ehrenplatz in meinem Regal, so erhellend fand ich seine zugeneigte, die kulturgeschichtlichen und politischen Kontexte bedenkende Genrestudie. Auf dem Cover ist John Wayne in seiner letzten Rolle in »Der letzte Scharfschütze« abgebildet (offenbar mit dessen persönlicher Genehmigung). Aber in der ergänzten Ausgabe nahm French auch die aktuellen Verwerfungen des Genres in den Blick; die Zwischenüberschriften des Nachworts künden von verblüffender Zeitgenossenschaft (»Cops and Vigilantes«, »Baseball«, »New Faces of 1885«). Gewidmet hat er das Buch seinem verstorbenen Vater, mit dem zusammen er seine ersten Western sah, und seinen drei Söhnen, die ihre ersten Western gemeinsam mit ihm entdeckten. Schon damals begriff French seinen Beruf als einen Generationenvertrag, den es einzuhalten gilt.
Seither muss ich zahllose Artikel von ihm in »Sight and Sound« und wohl auch in »Film Comment« gelesen haben. Er war eine feste Größe für mich. Mit dem Aufkommen des Internets wurde meine Leserbindung unverhofft noch enger, denn nun konnte ich seine Arbeit auf der gemeinsamen Seite von »Observer« und »Guardian« regelmäßig verfolgen. Das war wie eine Verabredung, die keiner der Beteiligten versäumen wollte. Welches Aufsehen sein Abschied in den Ruhestand erregte, ist mir noch sehr gegenwärtig. Da war zu spüren, wie sehr ihn auch die Filmemacher liebten, die Elogen auf ihn veröffentlichten. Zu diesem Anlass führte er noch einmal in einen ausführlichen Dialog mit seinen Lesern, beantwortete Dutzende von Fragen. Besonders berührt hat mich damals, wie er in Zwiesprache mit einer älteren Dame trat, die in den 30er Jahren aus Liebhaberei für ein Jahr lang Filmkritiken schrieb. Es kam zu einer persönlichen Begegnung mit ihr, die er mit der ihm eigenen, respektvollen Wissbegierde anbahnte und sodann ausführlich schilderte. Fürwahr, Philip French war kein Snob, sondern einer, der seine Liebe zum Kino unbedingt teilen wollte.
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