Nanni Moretti – Reise durch Morettanien
Nanni Moretti in »Mia Madre« (2015)
Ohne ihn sähe das italienische Kino alt aus. Dabei ist Nanni Moretti schon seit vierzig Jahren im Geschäft – ein linker Autorenfilmer, der einen ganz eigenen Kosmos geschaffen hat. Zum Start von »Mia madre« porträtiert Georg Seeßlen den Regisseur und Schauspieler
Nanni Moretti, Jahrgang 1953, Römer, Mitbürger, Künstler, ist eine Institution im italienischen Kino. Er erschien auf der Szene zu einem Zeitpunkt, in den Siebzigern, als das italienische Kino finanziell wie künstlerisch in seiner größten Krise steckte, und schlug eine neue Art des Filmemachens vor. Moretti hatte Erfolg damit; seitdem haftet ihm die Rolle eines Erretters und Erneuerers des italienischen Films an. Er trägt es mit Fassung.
Nanni Moretti ist ein Autorenfilmer reinsten Wassers. Keiner ist der Vorgabe der Nouvelle Vague, die Kamera wie einen »Stylo« zu benutzen, gerecht geworden wie er. Er hat fast immer in der ersten Person gefilmt, seine Filme sind wie handschriftliche Skizzen, die zu grandiosen, selbstreferenziellen, politischen und poetischen Mosaiken werden: der Weg eines Menschen, der ein Linker geblieben ist, ohne sich mit der Larmoyanz des Scheiterns abzugeben, eines freien Künstlers mit privaten Problemen, die nie nur privat sind. Moretti ist einer, der lange darum ringen musste, ein »Erwachsener« mit Familie und Kindern zu werden, einer, der Krankheiten und Verluste übersteht, einer, für den das Leben, die Kunst und die Politik zusammengehören, gerade weil sie sich andauernd in die Quere kommen. In immer neuen Kombinationen entfalten sich die Moretti’schen Motive: Autofahrten streitender Paare, Papierberge, abgebrochene Dreharbeiten, Psychoanalyse, Familienkatastrophen, römische Abende, Vespafahrten, Hommagen an Fellini oder den Neorealismo, Film im Film, Sport, Satire... Moretti ist das Zentrum dieser Motivketten, der zögernde, melancholische und dann wieder abrupt aktive Mensch und Künstler.
Ein Kino in Rom
Als Autor, Regisseur, Darsteller, Produzent und manchmal auch Cutter seiner Arbeiten ist Moretti ein total filmmaker. Außerdem betreibt er ein Kino, das Cinema Nuovo Sacher. Es wurde in den dreißiger Jahren von Ettore Rossi gebaut und diente als Freizeitstätte für die Staatsangestellten. Danach war es ein Varieté, in dem auch Filme gezeigt wurden, schließlich ein gewöhnliches römisches Kino, das die Erfolgsfilme nachspielte. Anfang der Neunziger war es geschlossen worden, bevor es von Nanni Moretti und seinem Mitstreiter, dem Produzenten Angelo Barbagallo, in ein Programmkino umgewandelt wurde. Es ist ein Ort, der seine Geschichte bewahrt, nicht nostalgisch, sondern kritisch. Es beherbergt ein kleines Buchangebot und eine Ausstellung mit Plakaten zu Morettis Lieblingsfilmen. Und während dies hier geschrieben wird, läuft im Cinema Nuovo Sacher der neue Film von Wim Wenders.
Mit dem Nuovo Sacher schufen Moretti und Barbagallo einen Preis für die italienischen Filme, die ihrer Meinung nach auf dem richtigen Weg sind. Da sie die beiden einzigen Jurymitglieder sind, gelang es ihnen zu Beginn der neunziger Jahre, ausgesprochen deutlich zu machen, was sie von der Produktion hielten, nämlich nichts, indem sie den Sacher d’Oro nicht verliehen. Heute sind Moretti und Barbagallo in Sachen Zukunft des italienischen Films wieder ein wenig zuversichtlicher.
Seit 1987 produziert Moretti Filme von Kollegen, und auch in dieser Funktion verwirklicht er einen gewissen Morettismus. In seinem Kino wird man Sex und Gewalt vergeblich suchen, keine Schauwerte und Effekte finden, aber auch keine Bilderstürmerei. Sondern eine sanfte, aber insistente Poesie der Wirklichkeit, die wunderbarste Balance von Komik, Trauer und Zorn, von Melancholie und Optimismus, von Leichtigkeit und Tiefe.
Moretti hatte 1973 mit einer Super-8-Kamera zu arbeiten begonnen und wollte in seinen Kurzfilmen, die zwischen 1973 und 1975 entstanden, eine Chronik der Post-68er Generation schreiben. 1976 brachte er seinen ersten großen Drehbuchfilm auf den Weg – »Io Sono un Autarchico (Ich bin ein Autarkist)« wurde ein Hit in den italienischen Klubkinos, die es damals noch reichlich gab. In seinem Film erkannten sich viele wieder, auch solche, die weder zu »den 68ern« gehörten noch sich hätten als Cineasten bezeichnen lassen. Das »Io« des Titels war ganz direkt und konkret Nanni Moretti, es war aber auch das Ich all derer, die in diesen Jahren nach der Rebellion und inmitten der bleiernen Erfahrung von Terrorismus und Gegenterror des Staates nach einer Haltung suchten. Nanni Moretti kritisierte die Linke. Das hat er Zeit seines Lebens getan. Aber er tat es mit so viel ironischer Zärtlichkeit und Solidarität, dass es auch eine Ermunterung zum Weitermachen war.
»Io Sono un Autarchico« ist, natürlich, ein autobiografischer Film: die Geschichte des jungen Michele, eines ewigen Studenten, der gerade von seiner feministisch engagierten Frau verlassen wurde und sein Leben dem kleinen Kind widmet, das schon reifer zu empfinden scheint als er selbst. Endlich entschließt er sich, bei einer Undergroundbühne in der Inszenierung eines befreundeten Regisseurs mitzumachen, was in groteske Redeschlachten und Psychokämpfe mündet. Das Theater wird zur Metapher der politischen und kulturellen Ohnmacht einer Generation und eines Milieus, das sich nicht zuletzt auch selbst entmachtet.
Eine neue, radikale und direkte Formensprache
Die drei Welten, in denen sich Morettis Filme bewegen werden, sind hier schon vorgegeben. Da ist die zerbrechliche neue Kleinbürgerfamilie, in der es gilt, persönliche Ansprüche und Verantwortung füreinander auszutarieren. Dann ist da das politische Engagement, das seinen Sinn und seine Praxis zu verlieren droht, da die alte Linke ins bürgerliche Lager schwenkt, während die neue Linke unter den Widersprüchen ihrer eigenen bürgerlichen Milieus leidet und zu zerfallen droht. Schließlich gibt es die Kunst zwischen Prätention und Anmaßung auf der einen, der Sehnsucht nach der Wirklichkeit und der Wirkung auf der anderen Seite.
Seinen sanften Humanismus und die Ironie mag Moretti von den alten Meistern übernommen haben, seine Techniken aber sind radikal, neu und direkt. Seinen nächsten, schon etwas aufwendigeren Film drehte er 1978 mit Originalton, eine bis dahin im italienischen Kino unübliche Praxis. »Ecce Bombo« (Die Nichtstuer) erzählt die Geschichte von Michele weiter, zeigt seine schwierigen Beziehungen zu Frauen, seine Bindung an die Familie, seine Lähmung auch. Ganz bewusst lehnt sich der Bilderreigen an Fellinis »I Vitelloni« (1953) an, widerspricht aber auch, indem er einen sozialen und politischen Hintergrund einfügt: Ein Vierteljahrhundert nach Fellini haben die jungen Nichtstuer keine großen Träume mehr im Kopf, stattdessen müssen sie sich unentwegt etwas erklären. Was in Nanni Morettis Filmen übrigens selten gelingt.
Seinen bis dahin größten Triumph erlebte Nanni Moretti, als »Sogni d’oro« (Goldene Träume) 1981 in Venedig ausgezeichnet wurde. Der Film reflektiert Morettis Arbeit als Regisseur in der Geschichte eines Autors, der durch Italien reist, um seinen Film an verschiedenen Orten vor sehr unterschiedlichen Zuschauern vorzustellen, wobei er zunehmend quälenden Fragen standhalten muss. Wieder macht der Film das, wovon er erzählt – er öffnet den Blick über das selbstkritisch betrachtete Milieu hinaus und setzt sich dabei neugierigen und skeptischen Blicken aus. Man sieht, wie dieser »Abstieg« in die Wirklichkeit zugleich schmerzhaft und befreiend ist. Eine Befreiung ist aber auch, dass der Film on the road geht; ganz buchstäblich wird Morettis Kino weiter und kühner; man gerät in Bewegung, man darf staunen.
Nachdem Michele in »Bianca« (1984) noch eine regelrechte Romanze erlebte, nahm Moretti einen scheinbar radikalen Wechsel vor. Er gab die Figur auf und schrieb ein Drehbuch zusammen mit dem Filmkritiker Sandro Petraglia, der später als Autor von Marco Tullio Giordanas »La meglio Juventú« (Die besten Jahre) bekannt wurde. In »La Messa è finita« (Die Messe ist aus, 1985) spielt Moretti den jungen Priester Don Giulio, der zehn Jahre auf einer kleinen Insel lebte und nach Rom zurückbeordert wird, wo er seine neue Gemeinde reichlich verwahrlost vorfindet. Die Kirche selbst ist verkommen, sein Vorgänger hat sich mit Frau und Kind gewissermaßen in ein bürgerliches Leben zurückgezogen. Und auch die Freunde von einst findet er verändert. Einer sitzt als angeblicher Terrorist im Gefängnis, der andere will niemanden mehr sehen, der dritte, einst hoffnungsvoller Pianist, will nun auch Priester werden, aber eher aus Depression als Berufung, der vierte lebt vom Verkauf antiquarischer Bücher und interessiert sich nicht mehr für Politik. Vier Formen, lebendig begraben zu sein. »La Messa è finita« verbirgt seinen autobiografischen Kern in einem durchgängigen Drama, und es ist vielleicht der bis dahin bitterste Film von Nanni Moretti. In »La messa è finita« ist die italienische Gesellschaft, rund heraus gesagt, am Ende.
In »Palombella Rossa« (Wasserball und Kommunismus,1989) frönte Nanni Moretti seiner frühen Leidenschaft für das Wasserballspielen, immerhin hatte er es bis zur Jugendnationalmannschaft gebracht. Wasserball gilt in Italien als »typisch linker« Sport, vielleicht weil er noch stärker als andere Mannschaftsspiele auf das Teamwork abgestellt ist. Dieses Mal ist der Held ein junger Politiker der KPI, der bei einem Autounfall zeitweilig das Gedächtnis verloren hat. Er fängt bei einem entscheidenden Wasserballspiel an, sich wieder zu erinnern. Die Pointe ist so einfach wie genial: Er erinnert sich zwar daran, dass er in der Kommunistischen Partei ist, aber beim besten Willen nicht, warum.
Alles ist aus dem Leben gegriffen – und zugleich Poesie
Eine Krebserkrankung warf Moretti dann aus der Bahn. Und so wurde »Caro Diario« (Liebes Tagebuch, 1993), nach vier Jahren der Abwesenheit, auch ein Wiederauferstehungsfilm. Man kann ihn als einen Film sehen, der von einem handelt, der ins Leben zurückkehrt, schwankend zwischen unbändiger Lebensfreude – in den Vespafahrten durch die Stadt – und der Wiederkehr der alten Widersprüche. Es ist der Abschied von der geschlossenen Geschichte wie in »La Messa è finita« und vom empathischen Lehrstück wie in »Palombella Rossa«, eine freie Erzählweise, die keine »Geschichte« braucht.
Es war für Moretti selbst durchaus überraschend, dass dieser so intime, so wenig an Kinokonventionen ausgerichtete Film einen solchen Erfolg beim Publikum haben konnte. Wie in »Io Sono un Autarchico« fühlten sich Menschen angesprochen, die sich in der selben Situation, derselben Krise wie der Protagonist befanden, und daher fand »Caro diario« – übrigens auch der erste Moretti-Film, der in Deutschland eine richtige Kinoauswertung erfuhr – viele Zuschauer jenseits der Cineastenkreise.
Mit »Caro Diario« begann Morettis Weg hin zu einer einfacheren Form. Es ist nicht nur ein Kino in der ersten Person, es ist auch ein Film, der nichts anderes meint, als er zeigt. Die Anspielungen und Metaphern sind leichter, universeller, nicht »intertextuell«, sondern immer im augenblicklichen Gebrauch. Auch die Sprache mäandert nicht mehr so selbstreflexiv und semantisch aufgeladen durch die Handlung und neben der Handlung her. Es ist wie ein Aufatmen.
Auf die Begegnung mit dem Tod und die Wiedergeburt folgt mit »Aprile« 1998 erneut ein Film in erster Person, das Dokument eines weiteren plot points im Leben des Nanni Moretti – jetzt eine Geburt. Nach Silvio Berlusconis Wahlsieg 1994 ist die italienische Linke gelähmt und ratlos, nun, 1996, wird Italien erneut wählen. Moretti, der gerade ein buntes Musical über einen trotzkistischen Konditor dreht, bricht die Arbeit ab und will einen Dokumentarfilm über den Wahlkampf machen. Aber im gleichen April wird auch sein Sohn zur Welt kommen, was ihn fast noch mehr aus der Spur bringt als die Arbeit. Alles ist direkt aus dem Leben gegriffen; es ist Morettis Frau Silvia Nono, die seine Frau im Film spielt, es ist sein Kind, seine Wohnung – und zugleich ist alles pure Poesie, angewandte Kunst, etwa wenn der wirkliche Nanni Moretti am wirklichen Hyde Park im wirklichen London steht und den Passanten aus Briefen voller Lamento und Kritik vorliest, die er nie abgeschickt hat. Und wenn man schon glaubt, diese Performance der Ohnmacht sei vorbei, da zieht er aus seinem Mantel einen weiteren Packen davon hervor. Ein wundervolles Bild für eine »Arbeit« der Linken, die zu nichts führt.
Als Regisseur in »Aprile« zweifelt Moretti zwischendurch so sehr an seinem Beruf, dass er der Crew nur noch Telefonanweisungen aus einer Bar gibt. Immer geht es in Morettis Filmen auch um Distanz und Nähe. Es ist, als könnte man der Kamera dabei zusehen, wie sie nach der richtigen Entfernung sucht, wie sie nach den Bildern forscht, die alles sagen, ohne den Menschen zu entwürdigen. Offenbar vermeidet Moretti alles, was er als Gewalt gegenüber dem Zuschauer empfinden würde. Er zwingt ihm weder eine Meinung noch eine Emotion auf. Morettis Factory, zu der neben Schauspielern auch Techniker gehören, funktioniert, wenn sie es tut, nach dem Prinzip des Respekts. Moretti bestraft sich in seinen Filmen immer wieder dafür, dass er es an Respekt gegenüber anderen Menschen hat mangeln lassen. Das Tyrannische seines Berufs macht ihm Spaß und stürzt ihn in Depression. Es ist die Offenheit von »Botschaft« und Form, die Nanni Morettis Filme so brauchbar machen.
Seine Michele-Figur wurde zwar durch den »wirklichen« Nanni Moretti abgelöst, aber es bleibt der schlaksige, immer ein bisschen überforderte Mann, der am glücklichsten scheint, wenn er sich irgendetwas über den Kopf ziehen kann – die Badekappe des Wasserballspielers, die Priesterhaube, den Sturzhelm –, und der sich, obwohl ihm alles nur zu vertraut ist, durch die Welt bewegt wie ein Fremder, einer, der nicht wirklich dazugehört. Immer sieht er die Menschen, die eigentlich seine Nächsten sein sollten, seine Familie, seine Freunde, seine Mitarbeiter, so an, als könnte er beim besten Willen ihr Verhalten nicht entschlüsseln. Dass man das Leben inszenieren kann, heißt noch lange nicht, dass man es auch führen kann.
Der gehobene Mittelstand
Auf die beiden »Befreiungsfilme« folgte 2001 »La Stanza del Figlio« (Das Zimmer meines Sohnes), der das größte Unglück beschreibt, das einem widerfahren kann: den Tod des Kindes. Nun sind wir mittendrin im Leben des gehobenen liberalen Mittelstands. Nanni Moretti ist der Psychiater Giovanni, der mit seiner Ehefrau Paola (Laura Morante), die in einem Verlag arbeitet, und den Kindern Irene und Andrea in einer guten Gegend von Ancona lebt. Die Tochter hat einen Freund, der kifft, der Sohn wird eines Diebstahls bezichtigt. Aber alles in allem ist diese Familie, wie man so sagt, intakt. Aus dem Vorhaben, gemeinsam mit seinem Sohn zum Joggen zu gehen, wird nichts, weil Giovanni von einem selbstmordgefährdeten Patienten gerufen wird. Bei seiner Rückkehr erfährt er, dass Andrea beim Tauchen ertrunken ist. Als Giovanni nach kurzer Trauerzeit die Arbeit in der Praxis wieder aufnimmt, ist nichts mehr, wie es war. Er ist zornig auf den Patienten, der ihn damals rief, und verliert den Kontakt zu seiner Familie: Jeder vergräbt sich in den eigenen Schmerz. Erst als eine ehemalige Brieffreundin des Sohnes auftaucht, scheint sich sacht eine Tür aus dem Gefängnis von Trauer, Zorn und Selbstmitleid zu öffnen. Und in diesen letzten Szenen des Films zeigt Moretti wieder einmal seine unvergleichliche Fähigkeit, mitten in und nach den bedrückendsten und kompliziertesten Problemen das Erlösende zu erzeugen. Leichtigkeit.
Eine neuerliche Wendung schien »Il Caimano« (Der Italiener, 2006) zu sein. Wieder drehen sich Filmemachen, Politik und Privatleben ineinander: Ein Filmproduzent, Bruno Bonomo (»Gutmensch«, gespielt von Silvio Orlando), einst mit trashigen B-Pictures in der boomenden Industrie der 1970er Jahre erfolgreich, befindet sich in einer schwierigen Situation: Seine Ehe und seine Firma stehen vor dem Ruin. Da erscheint eine junge Regisseurin, die einen Film über Silvio Berlusconi drehen will, wie ein Rettungsanker. Zuerst versteht Bruno dieses Projekt gar nicht und wundert sich über Finanzierungsschwierigkeiten und darüber, wie sich die prominenten Schauspieler – Michele Placido – aus dem Projekt winden. Der Film scheitert. Am Ende tritt Moretti selbst als der »echte« Berlusconi auf und zeigt am Ende des Films, als der Gestürzte und vom Gericht Verurteilte unverhohlen zu einem Bürgerkrieg aufruft, die wahre Monstrosität dieser Gestalt. In Deutschland kam der Film mit einer Verspätung von anderthalb Jahren heraus, als gerade das Schlimmste vorbei schien. Man musste trotzdem ziemlich blind und taub sein, um »Il Caimano« zu bescheinigen, er sei »erstaunlich zahnlos« (»Der Spiegel«). Es ist der genaueste Film über ein politisches Ungeheuer, das so groß werden konnte, weil es keine linke Gegenkraft gab und das Kleinbürgertum in genau dem desolaten Zustand war, den Moretti in seinem Film zeigt. In Italien war »Il Caimano« auch ein kommerzieller Erfolg. Und vielleicht sogar ein politischer. Aber er war nie nur als politischer Eingriff gedacht, sondern immer auch als Teil einer großen Chronik. Der Chronik des italienischen Mittelstands, dessen Niedergang politische Wurzeln hat – so wie der politische Niedergang des Landes seine Wurzeln im Niedergang des tertiären Sektors hat.
In »Habemus Papam« von 2011 schlüpft Moretti zum zweiten Mal in die Rolle eines Psychiaters, allerdings hat er hier einen sehr prominenten Patienten. Nach dem Tod des Papstes versammeln sich die Kardinäle in der Sixtinischen Kapelle, um einen Nachfolger zu bestimmen. Die Wahl fällt überraschend auf Kardinal Melville (Michel Piccoli), der es zunächst als seine Pflicht betrachtet, das Amt anzunehmen. Kurz vor der Verkündung bricht er indes schreiend zusammen. Dr. Brezzi wird engagiert, um den verschlossenen Melville durch die Krise zu bringen und zur Annahme des Amtes zu überreden, während man die gespannte Menge und die Presse noch zu vertrösten versucht. Schließlich soll es Brezzis Ex-ehefrau (Margherita Buy, mittlerweile eine feste Figur in Morettanien), ebenfalls Psychiaterin, versuchen, und Melville wird zu ihr gebracht. Doch auf dem Rückweg entkommt der Kardinal seinen Bewachern und mischt sich unter das Volk von Rom, begibt sich auf seiner Reise in die eigene Vergangenheit – ins Theater. Melville wird schließlich aufgegriffen und in den Vatikan zurückgebracht; er gibt öffentlich seinen Rücktritt bekannt und sein Bedauern darüber, dem Amt nicht gewachsen zu sein. Aber es ist ein großer Mut und ein wahres Selbst-Bewusstsein, mit dem er das verkündet. Habemus Papam kann man auch als eine Chronik des glücklichen Scheiterns sehen, als Versuchsanordnung über Menschen, die durch Niederlagen entscheidende Schritte zu sich selbst machen.
Als Drehbuchautor und Darsteller trat Nanni Moretti schließlich in »Caos Calmo« hervor; Regie führte Antonello Grimaldi, und wenn es auch Moretti-Motive sind, um die es nach einem Roman von Sandro Veronesi geht, so ist es doch auch ein Grimaldi-Film. Was unter anderem bedeutet, dass wir zum ersten Mal von außen auf die Moretti-Figur sehen. Es geht erneut um das Motiv der Trauer und des Schuldempfindens. Moretti als Pietro ist ein Fernsehmacher, der eines Tages mit seinem Bruder zwei Frauen vor dem Ertrinken rettet. Zur gleichen Zeit stirbt zu Hause seine Frau. Pietro verfällt in Lähmung, das stille Chaos des Titels. Er arbeitet nicht mehr, verbringt die Tage im Park vor der Schule seiner Tochter, verliert jede Motivation, sich aus dem Kreis der Trauer zu befreien, bleibt aber äußerlich bemerkenswert gelassen, so dass Freunde und Verwandte ihn um Hilfe und Rat ersuchen. Am Ende bittet die Tochter ihn, nicht mehr vor der Schule zu warten. Pietro fährt mit dem Auto davon.
Ob es sich dabei um die Neugeburt eines einstigen Sklaven der Unterhaltungsmaschine als Mensch oder um eine schließlich doch geglückte Trauerarbeit – nebst der von der Tochter ebenfalls gewünschten Rückkehr auf einen Chefposten – handelt, bleibt offen. Wieder jedenfalls ist in diesem Wiedergeburts- und Trauerfilm auch das Porträt einer Klasse verborgen, der Mittelschicht mit ihren Karriereträumen und Ritualen.
Die kämpferische Frau
Insofern ist Morettis Rolle in seinem aktuellen Film »Mia madre« eine mögliche Fortsetzung. Er ist der Bruder der geplagten Regisseurin (Margherita Buy, natürlich), die ihren Film über die Arbeitskämpfe inmitten einer gewaltigen Lebenskrise durchkämpfen muss: Gerade hat sie sich von ihrem Freund, einem Schauspieler, getrennt, ihre Tochter macht Probleme, und ihre Mutter liegt im Krankenhaus, es wird klar, dass sie sterben muss. (Auf ähnliche Weise war Nanni Morettis Mutter während der Dreharbeiten zu »Habemus Papam« gestorben. Die Missverständnisse am Set, die John Turturro als Hollywoodstar in der Rolle eines Unternehmers durchspielt, bilden ein wenig die Arbeit mit Michel Piccoli ab.) Moretti spielt ihren Bruder Giovanni, der anscheinend gefasst mit der Situation umgeht und sich still um die Mutter kümmert. Doch er hat gerade seinen Beruf aufgegeben; dass er nicht so überfordert scheint wie die Schwester, hat damit zu tun, dass er sein Scheitern eingesteht.
Die Filmemacherin Margherita ist eine Abbildung des Filmemachers Nanni Moretti, der sein cineastisches Abbild gespalten hat, in einen kämpferischen weiblichen und einen resignierten männlichen Teil. In den frühen Filmen Morettis waren die Frauen meistens die »Vernünftigeren« und »Erwachseneren«. Nun zeigt sich mehr und mehr, dass auch diese Trennung eine Chimäre war. Das Subjekt von Kunst, Leben und Politik hat immer eine weibliche und eine männliche Seite. Nur scheint mittlerweile die männliche die erschöpftere zu sein.
»Mia madre« fasst vieles von dem zusammen, was Nanni Moretti in den Filmen zuvor untersucht hat. Die Frage danach, wie politisch ein Film sein kann, ist wieder da, die Frage, wie man künstlerische und menschliche Verantwortung zusammenbringt, die zerfallende Familie, die Konfrontation mit dem Tod, die Chronik eines linken, liberalen Kleinbürgertums, das um seine Existenz und um seine Würde kämpft, und am Ende: die Gnade der Leichtigkeit. Es ist schon eine sehr typische Szene, mit der der Film endet. Nach ihrem Tod erscheint die Mutter Margherita im Traum. Margherita fragt: Mama, an was denkst du? Und die Mutter antwortet: An morgen.
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