Synchronisation im Animationskino: Die Stimmen im Kopf
© Walt Disney
Schön ist es, wenn ein Eichhörnchen wie ein Mensch spricht... Aber muss es Boris Becker sein? Zum Start des Pixar-Films »Alles steht Kopf« fragt sich Gerhard Midding, welche künstlerischen Möglichkeiten die Synchronisation im Animationskino eröffnet
Riley ist erst elf Jahre alt, aber sie führt schon ein reiches Innenleben. Viele Stimmen ringen um die Vorherrschaft in ihrem Kopf: Eine möchte, dass ihr Leben eine einzige Freude ist; eine würde gern verhindern, dass sie im Kummer versinkt, kann aber nicht gegen ihr Wesen an; eine dritte will sie aus Angst vor jeder Gefahr bewahren; eine vierte lässt sie aus Ekel Abstand von unerfreulichen Situationen halten, und die fünfte schließlich droht vor Wut zu platzen.
In »Alles steht Kopf« drängen sie sich alle vor einer Konsole im Kontrollzentrum von Rileys Verstand und stürzen das Mädchen in ein Wechselbad der Emotionen. Aber sie versuchen, miteinander auszukommen. Sie suchen den Ausgleich; sie wissen, dass sich ihre Kompetenzen überschneiden müssen, damit Riley ein gesunder, lebensfähiger Teenager bleibt. An ihrer Konsole wirken sie ein wenig wie Sprecher, die sich in einem Studio zusammengefunden haben im Namen einer gemeinsamen Sache: Sie geben den Gefühlen eine Stimme. Für den Zuschauer sind diese hingebungsvollen Einflüsterer sichtbar. Das unterscheidet sie von Synchronsprechern, deren Arbeit hinter den Figuren und Bildern verschwinden soll.
Kulturbollwerk
Die Synchronisation hat in Deutschland einen schlechten Leumund. Dafür gibt es historische Gründe: Im Wesentlichen ist sie ein Erbe der Nazizeit, darüber hinaus geriet sie immer wieder zum Instrument der Zensur. Und dann sind da empirische Gründe: Es gibt mehr schlechte als gute Synchronisationen. In der restaurativen Nachkriegszeit fungierte die Synchronisation oft als kultureller Schutzwall, der fremde Einflüsse abwehrte. Sie war ein Medium der Einhegung, der Anpassung an die eigene Mentalität, die eigenen Sitten und das eigene Temperament. Der Zeichentrickfilm war dafür stets ein besonderes Terrain. Den deutschen Fassungen der klassischen Disney-Filme der 50er und 60er Jahre oder auch der poetischen Märchenfilme des Franzosen Paul Grimault eignet eine Betulichkeit, die nicht immer im Einklang mit den Originalen steht; dem satirischen Elan der Trickfilme des Italieners Bruno Bozzetto hingegen war in den 60ern auch mit deutscher Gemächlichkeit nicht vollends beizukommen.
Einige traditionelle Vorbehalte gegenüber der Synchronisation greifen bei Animationsfilmen indes nicht. Zwar sind auch sie Übertragungen in eine andere Sprache, die das Original verfälschen können; den Figuren wird eine Stimme auferlegt, die aus einem anderen Kulturkreis stammt. Aber der grundlegende Einwand, die Synchronisation breche die Einheit zwischen Geste und Stimme auf, trifft sie nicht. Er gilt nur für Realfilme. Bei der Animation kann diese organische Einheit nicht verloren gehen, einfach weil sie nie existierte.
Auch die Frage des verlustreichen Kulturtransfers stellt sich mitunter anders. Zeichentrickfiguren sind abstrakter, gehören einer anderen Sphäre als der Wirklichkeit an. Das Verhalten des Ameisenvolkes in »Das große Krabbeln« etwa muss nicht notwendig amerikanischen Regeln und Codes gehorchen; schließlich lehnt sich der Film ja an eine japanische Vorlage an: Akira Kurosawas »Die sieben Samurai«. Die Ratten, Köche und Restaurantgäste in »Ratatouille« können in jeder Sprache mit französischem Akzent sprechen. Mithin gilt nur eine eherne Regel: Die Stimme muss auf die Figur passen.
Aufbruch
Einen entscheidenden kreativen Wendepunkt stellt 1967 die Synchronfassung des »Dschungelbuchs« dar. Vor allem für die Disney-Tradition bedeutet der Film einen Befreiungsschlag: Von nun an konnten auch Langfilme so temporeich, schmissig und ungestüm gesprochen werden wie die bis dahin agileren Kurzfilme. Die Besetzung der deutschen Fassung (zumal mit Klaus Havenstein und Edgar Ott; selbst der behäbige Siegfried Schürenberg lief in der Rolle des Shir Khan zu ungekannt maliziöser Form auf) ist eine ebensolche Glanztat wie die des Originals. Ihre Mischung aus bewährten Synchronstimmen und Sprechern aus Kabarett und Boulevardtheater wurde stilbildend. Fortan tummelten sich Ott, Havenstein und Co. auch in Aristocats, Robin Hood und anderen Disney-Produktionen.
Der deutsche Verleih des Studios versammelte eine regelrechte stock company, zu der Harry Wüstenhagen, Martin Hirthe, Friedrich Schönfelder und Susanne Tremper gehörten, und zu denen sich später Beate Hasenau, Joachim Kenner und Gerry Wolff gesellten. Diese Stimmen besitzen Wiedererkennungswert; sie fungierten als Markenzeichen. Viele der Sprecher liehen ihre Stimmen auch an frankobelgische Produktionen aus; Edgar Ott beispielsweise war ein prächtiger Obelix. Der Vergleich mit den tendenziell temperamentloseren Neusynchronisationen, die Disney in den 90er Jahren für die DVD-Auswertung in Auftrag gab, scheint den Verdacht zu bestätigen, den Thomas Bräutigam in seinem vergnüglichen Standardwerk »Stars und ihre deutschen Stimmen« formuliert: dass heute an die Stelle markanter Sprecherpersönlichkeiten ein austauschbares Stimmenallerlei getreten sei.
Der andere Tonfall
Als Gegenargument könnte man die Vielzahl exzentrischer, aufgedrehter Figuren ins Feld führen, deren Sprecher dem Affen richtig Zucker geben. Ein Beispiel ist der Drache in »Mulan«, dem im Original Eddie Murphy seine Stimme leiht und in der deutschen Fassung Otto Waalkes, der in der Folge noch mancherlei vorzeitliches oder mythisches Getier vertonen sollte. In solchen vermeintlichen Glanzrollen überschlagen sich frenetische Diktion und verbale Hektik.
Pixar-Produktionen stecken voller flinker Unruhestifter wie etwa Mike Glotzkowski aus »Die Monster AG« (im Orignal Billy Crystal, im Deutschen Ilja Richter), bei denen sich der Sprechakt auf irrwitzige Weise verselbstständigt. Klugerweise ist das Schreien in diesem Film ein zentrales Handlungsmotiv: Die Welt der Monster kann nur dank der Energie der Schreckensschreie von Kindern existieren, die von der den Titel stiftenden Firma in saubere, umweltfreundliche Energie verwandelt wird (deren Motto »Wir erschrecken zu guten Zwecken!« ist ein Glanzstück des Synchronschreibens).
In aller Regel verlangt die Synchronisation von Zeichentrickfilmen einen Tonfall, der die Realität überhöht. Der Sprecher muss sich meist einfühlen in eine wundersame Welt. Das räumt ihm die Freiheit ein, ganz andere Register im Duktus zu ziehen als im Realfilm. Axel Malzacher hat als Sprecher, Autor und Regisseur Erfahrung in beiden Disziplinen gesammelt, hat Filme von Wes Anderson, Ridley Scott und die letzten Bond-Filme synchronisiert, aber auch Chihiros Reise ins Zauberland, Ratatouille, Manolo und das Buch des Lebens und gerade »Alles steht Kopf«. An den Sprecher stellt der Animationsfilm nach seiner Ansicht besondere Herausforderungen: »Der Animationsfilm ist anstrengender, weil die Figur da oben auf der Leinwand ja kein tatsächlicher menschlicher Organismus ist. Die sichtbare Figur überschreitet die menschlichen Grenzen, sie kann fliegen oder besitzt andere Fertigkeiten. Es bieten sich ihr viel größere körperliche Möglichkeiten als im Realfilm, was sich natürlich auch auf die Stimme niederschlägt.«
Als Autor und Regisseur ist Malzacher jedoch bemüht, den Figuren ein menschliches Maß zu geben. »Viele Kollegen kommen ins Studio, sehen, dass es sich um einen Animationsfilm handelt, und fallen sofort in eine höhere, cartoonige Stimmlage«, erzählt er. »Das macht mich wahnsinnig. Das Schönste für mich wäre, der Zuschauer könnte mit geschlossenen Augen nicht erraten, ob es Animation oder Realfilm ist. Was gibt es Schöneres als ein Eichhörnchen, das spricht wie ein Mensch?« Sein Ideal ist ein ehrlicher, direkter Tonfall. In »Alles steht Kopf« kommt er ihm vor allem in der Figur »Kummer« nahe, die von Philine Peters-Arnolds mit großer Empathie gesprochen wird. Sie ergreift leidenschaftlich Partei für ihre stille Figur, gibt ihrer Lethargie immer größere, dem Leben zugewandtere Nuancen.
Ein solch bedingter Realismus verdankt sich auch ästhetischen Wandlungen im Animationsfilm. Heutzutage ist die Lippensynchronität zu einer größeren Sorge geworden als früher. Der Zeichenstil hat sich verändert, die Mundbewegungen sind weitaus sichtbarer geworden. »Im Animationsfilm müssen wir heute oft viel größeren Wert auf Lippensynchronität legen«, erklärt Malzacher, »denn im Realfilm wird viel häufiger im Off, im Konter und in der Bewegung gesprochen. Im Gegenzug ist der Sprechakt in der Animation viel häufiger im Bild zu sehen. Ich schätze, 80 Prozent der Sätze sieht man, wenn sie direkt gesagt werden. Da herrscht eine weit größere Präzision als noch vor zehn, 15 Jahren. Früher fehlte mir als Sprecher das Gesicht, der Mund und das Auge, um in eine Figur hineinzufinden. Heute jedoch kann man genau sehen, wie ein L zwischen Zunge und Gaumen gebildet wird.« Eine besondere Herausforderung stellen in dieser Hinsicht japanische Produktionen dar, deren Sprache wortreicher ist und bei der Übersetzung den Einsatz von Füllwörtern erfordert.
Paradoxerweise fällt es Synchronsprechern heute oft leichter als den Sprechern des Originals, eine Einheit zwischen Geste und Stimme herzustellen. In den USA beginnt die Sprachaufnahme in der Regel bereits, bevor der Film fertig ist. Die Sprecher bekommen im Studio oft nur die Szenenbilder und Porträtzeichnungen ihrer Figuren zu sehen. Sie wissen noch nicht, welche Körperhaltung diese in einer Szene einnehmen oder wie sie sich bewegen werden. Synchronsprecher hingegen können präzise auf die Gestik der Figuren reagieren.
Hierin zeigen sich für Axel Malzacher grundlegende kulturelle Gegensätze: »Das US-Kino verfügt nicht über eine wirkliche Tradition der Synchronisation. Dort wird ein ausländischer Film adaptiert, indem man ein Remake von ihm dreht.« Für die Synchronisation ihrer eigenen Produktionen für ausländische Territorien legen die großen Studios jedoch hohe Maßstäbe an. Es gibt ein strenges Casting der Stimmen, bei dem die Synchronregisseure für jede Rolle meist drei Alternativen anbieten, die entweder abgesegnet oder verworfen werden können. Während die Synchronfirmen früher größere kreative Freiheiten hatten, wird heute von Produzentenseite Wert darauf gelegt, eine Diskrepanz zwischen Original- und Synchronstimme zu vermeiden.
Nicht immer begeben sich die Synchronregisseure ins Schlepptau des Originals. Sie gestatten sich lässliche, bisweilen hübsche Abweichungen. Kevin Spacey etwa spricht im Original von »Das große Krabbeln« den Hopper, den Befehlshaber der Heuschrecken, einen Hauch martialischer als Rufus Beck in der deutschen Fassung. Spacey schlägt mehr Volten zwischen Laut und Leise, Beck verleiht der Bedrohlichkeit zurückhaltendere Akzente. Den gestrengen Gastrokritiker in »Ratatouille« spricht Peter O'Toole mit britischer Distinguiertheit, während Jürgen Thormann seinem späteren Wohlwollen (»Das Neue braucht Freunde«) mehr Wärme gibt.
Tyrannei der Prominenz
Allerdings unternimmt die Branche auch unermüdlich Anstrengungen, sich selbst in Verruf zu bringen. In den letzten Jahren hat sich die Unsitte eingebürgert, statt professioneller Sprecher immer häufiger TV- und Boulevardprominenz zu verpflichten. Das ist stets eine Entscheidung zugunsten des Marketings und fast immer eine gegen die Qualität. Zu den bisherigen Tiefpunkten dieses Trends zählen beispielsweise das Engagement von Boris Becker und Verena Pooth in »Himmel und Huhn«, der Sprachauftritt des Tokio-Hotel- Sängers Bill Kaulitz in Luc Bessons Elfenfilm »Arthur und die Minimoys« und das Radebrechen der Moderatorin Sarah Kuttner, die in »Die Rotkäppchen-Verschwörung« ohne Punkt und Komma spricht und jeden Satz falsch betont.
Auch in den USA, Frankreich und anderen Ländern verschaffen Produzenten und Studios ihren Animationsfilmen Aufmerksamkeit, indem sie Berühmtheiten in tragenden Rollen besetzen. Das sind jedoch ausnahmslos Schauspieler: Tom Hanks als Cowboy in »Toy Story«, Mel Gibson als Yankee im britischen Hühnerhof von »Chicken Run«, Mike Myers und Cameron Diaz in »Shrek«; den Machern von »Antz« ist es gar gelungen, die Antipoden Woody Allen und Sylvester Stallone in einem Film unterzubringen. Die besondere Präsenz, die sie ihren Figuren geben, verdankt sich nicht allein ihrem Starruhm, sondern sie beruht auf ihrem Talent, Emotionen zu markieren.
Für Kenner wie Thomas Bräutigam stellt die deutsche Marotte eine Brüskierung des Berufsstandes dar: »Aus Sicht der professionellen, ihr Handwerk unbeachtet im Anonymen verrichtenden Synchronsprecher ist dies eine Zumutung, vor allem wenn man die Gagen vergleicht: Obwohl Laien auf dem Gebiet, erhalten die Promis das 20- oder 30-Fache der üblichen Gagen.« Überdies offenbart sich in dieser Besetzungspolitik eine chronische Geringschätzung des Kinos. Ein Land, in dem TV-Moderatoren und Boxweltmeister Filmpreise vergeben dürfen, hat es vielleicht nicht anders verdient. Aber um die Filme ist es schade. Sie veralten durch den Promiwahn. In ein paar Jahren, wenn der Ruhm dieser Sternchen verblasst ist, wird der Stunt-Effekt verpuffen. Dann hört man nur noch, wie falsch die Stimmen klingen.
Kommentare
Danke!
Vielen Dank für diesen sehr informativen Artikel!
Ich werde diese Informationen teils für meine Bachelorarbeit nutzen, von der die Synchronisation von Animationsfilmen ein wichtiger Teil ist. Gerne würde ich daher wissen, ob der Artikel zu seiner Zeit auch in der Print-Ausgabe erschienen ist, um ihn besser zitieren zu können.
Außerdem wäre es super, falls Sie mir weitere Quellen zu diesem Thema nennen könnten.
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