Interview mit Wim Wenders

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»Wim Wenders«

Der Zuschauer muss andere Teile seines Gehirns beanspruchen

Herr Wenders, die Schreibweise des Titels ist ungewöhnlich, normalerweise wird ‚everything’ zusammen geschrieben. Ist das ein Hinweis auf die Auslassungen, die zeitlichen Lücken, die der Film lässt?

Wenders: Die Auslassungen sind ein Erzählprinzip des Films. Was den Titel betrifft: ich fand, dass ‚everything’ im Sinne von ‚alles’ so einen beschwichtigenden Charakter hat, schnell zur Formel wird, die sich so leicht sagt: "Es wird schon alles gut". ‚Every thing’, auseinandergeschrieben, das muss man schon ernster nehmen – da will jedes Ding gut werden, jedes einzelne. Plötzlich bedeutet der Spruch wieder etwas. ‚Every thing’ führt dazu, mitzudenken, selbst etwas aufzufüllen...

Waren die Auslassungen schon im ursprünglichen Drehbuch oder sind die erst während der Weiterarbeit daran entstanden.

Die Auslassungen waren der erste Grund für mich, das Drehbuch ernst zu nehmen, Das hatte eine schöne Art, zwölf Jahre zu erzählen, indem immer ein kleiner Zeitraum erzählt wird, chronologisch und fast in Echtzeit; dann kommt ein Sprung, es ist Zeit vergangen, manchmal sogar Jahre. Das fand ich eine spannende Art, mit Zeit umzugehen und den Zuschauer zu animieren, alles, was dazwischen passiert, selbst dazuzudenken.

War das von dem Norweger Björn Olaf Johannessen verfasste Drehbuch in einer bestimmten Landschaft, einer bestimmten Kultur angesiedelt?

Es kam auf Englisch zu uns, mit der Vorbemerkung: "Ich habe es nicht für mein eigenes Land, Norwegen, geschrieben. Ich würde mir wünschen, dass man es irgendwo ansiedelt, wo es hingehört." Beim Lesen, eigentlich schon bei den ersten Szenen, war mir klar, dass ich es transferieren konnte in eine Situation, die ich gut kannte, nämlich nach Montreal und Quebec – da bin ich über 30, 40 Jahre schon oft gewesen. Ich habe dort Freunde, kenne die Gegend gut und wusste, wo die zu Beginn beschriebene Winterlandschaft mit großer Sicherheit machbar war.

James Franco ist ja nicht nur Schauspieler, sondern auch Fotograf, Drehbuch- und Romanautor und bildender Künstler. Hat das bei der Besetzung der Hauptrolle, des Schriftstellers Tomas, eine Rolle gespielt?

Ich wollte auf jeden Fall jemanden haben, der weiß, was für ein einsamer Beruf das Schreiben ist. Und auch jemanden, der sich damit auseinandergesetzt hat, aus dem Leben und den Erfahrungen anderer eine Fiktion zu machen. James ist ein ernsthafter Schriftsteller; wir haben uns in einem Drehbuchseminar kennengelernt, das ich schließlich zusammen mit ihm und seinen Studenten gemacht habe. Ich weiß, wie ernst er Literatur nimmt. Er konnte auch beim ersten Lesen mit der Figur etwas anfangen und intelligent verstehen, um welche Art von Schuld es in der Geschichte geht - nämlich nicht darum, ob man am Tod eines Menschen Schuld hat, sondern eher um die viel komplexere Frage: Darf ich aus dem Leiden anderer Literatur machen?

"Ihre Bücher vor dem Unfall waren nicht so gut", hält der Junge dem Schriftsteller vor. Trifft das eher auf Literaten zu als auf Filmemacher, bei denen ja noch ein ganzer Apparat zwischen der Idee und der Umsetzung steht?

Das Problem stellt sich für alle Künstler. Vor allem in der Literatur ist die Verwendung von "wahren Geschichten" und "dem Leben anderer" gang und gäbe. Im Kino ist es ein bisschen komplexer, weil die Sachen da durch so viele Hände gehen, und man sie auf vielschichtige Arten teilen muss, während man als Schriftsteller damit zunächst allein ist. Insofern ist der Vorwurf des jungen Christopher schon an den richtigen Mann gerichtet; man ahnt auch als Zuschauer, dass er recht hat.

Dokumentarisch haben Sie Sich mit dieser Problematik schon in Ihrem letzten Film »Das Salz der Erde« auseinandergesetzt: dem Fotografen Sebastian Salgado wurde ja auch gelegentlich der Vorwurf gemacht, dass er das Leiden ausstellt.

Das betrifft Fotografen und Dokumentarfilmer in der Tat stärker als die Geschichtenerzähler, für die es viel größere Sublimierungsprozesse gibt. In der Fotografie wie im Dokumentarfilm ist man schnell dem Vorwurf ausgesetzt, aus dem Leiden anderer Kapital zu schlagen, es zu benutzen. Im Fall von Salgado würde ich das entschieden verneinen, aber der Vorwurf ist eigentlich bei allen sozialen Fotografen schnell da, die sich in Situationen begeben, wo sie mit Leiden und Tod direkt konfrontiert werden. Und in Dokumentarfilmen stellt sich auch die Frage: Wofür ist man verantwortlich? Eigentlich ist man für jede Einstellung, die man macht, verantwortlich.

Diese Verantwortung ist immer eine Last?

Wenn jemand vor der Kamera steht, der einen Einblick in sein Leben gibt, kann das positiv sein. So ist es mir mit »Buena Vista Social Club« gegangen - ich glaube, da war meine Verantwortung für das Leben dieser alten Herren eine sehr schöne. Aber das kann auch genau in die andere Richtung gehen, dass die Verantwortung eine sehr schwere wird, wie in »Lightning Over Water«, der vom Tod eines nahen Freundes handelte. Ein Film hat auf jeden Fall direktere Folgen als Literatur. Wie weit kann man sich auf Erfahrungen anderer beziehen? Jedes Mal, wenn ich einen Film sehe, dem voran gestellt ist "nach einer wahren Geschichte", dann stelle ich mir als erstes die Frage: Wie gefällt der Film denen, denen diese Geschichte passiert ist? Letzten Endes denke ich, dass die Menschen, denen etwas passiert, immer wichtiger sein müssen als die Geschichte, die man daraus macht. Unser Tomas braucht eine lange Zeit, bis er den Menschen, dessen Schicksal er in seinem Buch verarbeitet hat, in sein Leben hineinlassen, bis er ihn tatsächlich in die Arme nehmen kann.

Ende 2012 sprachen Sie in der Berliner Akademie der Künste mit Ang Lee anlässlich der Premiere seines Films »Life of Pi« über 3D.

Sein Film war ein Zwitter, von der Herangehensweise dem amerikanischen Action-Film näher als unserem Natural-Depth–Verfahren. Es gab durchaus Szenen in dem Film, die ganz liebevoll und vorsichtig waren in der Benutzung von 3D, andererseits aber auch solche, die komplett effektgetrieben waren – bis hin zu der Tatsache, dass der Tiger natürlich von Computern generiert war. In der Raumdarstellung war »Life of Pi« schon ein ganz und gar amerikanischer Film; da findet eine "Dehnung" des Raums statt, die für unser Gehirn auf die Dauer anstrengend ist. Aber immerhin hat Ang Lee das sehr intelligent benutzt und die Regeln des Blockbusterfilms ziemlich anders ausgelegt, in einem Film, der auch eine spirituelle Dimension hatte.

3D im Spielfilm, das nicht auf Überwältigung zielt, steckt offenbar noch in den Anfängen?

Wir sind immer noch am Anfang davon, 3D zu verstehen, wir lernen alle noch. Als ich angefangen habe, »Every Thing Will Be Fine« vorzubereiten, dachte ich: Bis ich damit fertig bin, gibt es zwanzig Autorenfilme oder unabhängige Filme, die sich auf das Gelände wagen. Pustekuchen. Wir sind immer noch Versuchskaninchen. Oder Pioniere, wie man's nimmt. Wir arbeiten mit einem Verfahren, das ‚Natural Depth’ heißt, also "Natürliche Tiefe" – das hat schon den Anspruch, dass die Dreidimensionalität, die da vorkommt, mit unseren eigenen Augen zu tun hat, dass es ein organisches, ein vorsichtiges Verfahren ist. Das amerikanische Verfahren hingegen ist von Anfang an vom Effekt her gedacht. Wir haben im Gegenteil bei "Pina" und auch hier in dem Spielfilm von Anfang an physiologisch gedacht, also: wie gucken zwei Augen wirklich, und wie kann man das in die Filmsprache übersetzen? Das muss man aber von Anfang an wollen! Man muss seine Geschichte so erzählen wollen, denn man arbeitet anders. Der ganze Prozess ist ein anderer, bis hin zum Zuschauer, der sogar andere Teile seines Gehirns beanspruchen muss. Das ist in der Tat ein recht emotionaler Vorgang. Sich auf ein solches "gefühlvolleres" Schauen einzulassen, das ist noch ein neues Feld, vor allem weil alle Welt denkt, dass 3D vor allem etwas mit Action zu tun habe.

Ihre Kollegen schrecken davor offenbar noch zurück…

Ich finde, ein ganz schöner Film ist der von Jean-Pierre Jeunet, »Die Karte meiner Träume«, geworden. Aber auch da wird deutlich, welcher Art von Versuchung jeder Film, der in 3D gedreht ist, ausgesetzt ist – diese neue Sprache eben auf den Effekt hin zu benutzen und zu denken. Das ist die große Gefahr, dass man so dran schrauben kann, dann wird es schnell doch wieder die andere Sprache, ein Rollercoaster-Ride. Und den haben wir bei »Every Thing Will Be Fine« auf Teufel komm raus vermieden, in jeder Einstellung des Films. Wir haben das 3D so vorsichtig und natürlich eingesetzt, dass man schnell vergisst, dass man 3-D guckt.

Zwischen diesem Film und Ihrem vorangegangenen Spielfilm liegen sieben Jahre. Lässt sich das nur daraus erklären, dass die Dokumentarfilme zu einem bestimmten Zeitpunkt gemacht werden mussten?

Es hat vielmehr damit zu tun, dass »Pina« so lange gedauert hat, nämlich fast vier Jahre, und dass Spielfilme überhaupt, nicht nur meine, heute länger dauern, von der Entwicklung bis zum fertigen Film kaum unter vier Jahren zu schaffen sind. Viele machen deshalb Filme überlappend; das war bei mir auch so, »Das Salz der Erde« entstand parallel zu »Every Thing Will Be Fine«. Ich weiß gar nicht mehr, wie das früher ging. Fassbinder hat vier Filme in einem Jahr gemacht, auch ich habe in den Siebzigern jedes Jahr einen Film gemacht; heute kann das nur noch Woody Allen, ansonsten ist uns allen die Formel dafür entfallen. »Every Thing Will Be Fine« war auch nicht einfach zu finanzieren und durchzusetzen, als deutsch-französisch-kanadisch-skandinavische Koproduktion. Wir sind da an eine Grenze gestoßen, was heute im Independent-Bereich möglich ist. Die Budget-Schallgrenze verändert sich immer wieder, das wird stetig weniger - der Independent-Bereich muss in jedem Jahr ein bisschen mehr kämpfen.

 

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