Was steckt dahinter?
In den USA läuft dieser Tage »The Order« an, Justin Kurzels Politthriller über den Kampf des FBI gegen eine Truppe von Neonazis, die in den 1980ern den Nordwesten terrorisierten. In Venedig machte er, zumindest bei der englischsprachigen Kritik, ziemlich Furore. Ich bin gespannt auf ihn, kann allerdings noch keinen hiesigen Starttermin ausmachen.
»The Order« beruht auf dem Tatsachenbericht "The Silent Brotherhood" von Kevin Flynn und Gary Gerhardt. Die gleichnamige Bande von White Supremacists beging eine Reihe von Bank- und Raubüberfällen, um ihre Ziele zu finanzieren. Im Film entdeckt ein FBI-Agent (Jude Law) Parallelen zwischen den Verbrechen und den berüchtigten "Turner Diaries", welche quasi die Anleitung für den Umsturz der demokratischen Rechts- und Staatsordnung durch rechtsextreme Milizen liefert. Law spielt nicht nur die Hauptrolle, sondern hat »The Order« zudem mit seiner Firma Riff-Raff Entertainment co-produziert. Gerade las ich ein Interview, in dem er berichtet, wie sehr in "this amazing untold story" fasziniert habe. Unerzählt ist sie freilich mitnichten. Die Serie von rassistisch motivierten Gewalttaten bildet bereits die Grundlage für »Betrayed« (Verraten, 1988) von Costa-Gavras. Darin spielt Debra Winger eine FBI-Agentin, die eine solche Gruppe unterwandern soll und sich in ihren Anführer (Tom Berenger) verliebt. (Den hatte ich im Sinn, als ich im vorangegangenen Eintrag über die unglücklich konzipierten Frauenrollen bei ihm schrieb.) Das Drehbuch stammt leider von Joe Eszterhas und erschließt sich diese unheimliche Parallelgesellschaft entsprechend holzschnittartig. Die scheinbar unbescholtenen Farmer erweisen sich als rabiate Antisemiten, Globalisierungs-, Demokratie- und Fortschrittsfeinde, die zu Beginn einen jüdischen Talkradio-Moderator ermorden, später Hetzjagden auf Schwarze machen und ein Attentat auf einen Präsidentschaftskandidaten begehen. Ideologie, Rituale und Paraphernalia, die uns inzwischen (wieder) von US-Milizen vertraut sind, sind bereits vollends ausgebildet. Der 4th of July wird mit einem Barbecue begangen, bei dem unverhohlen Naziuniformen und Gewänder des Ku-KLux-Klan getragen werden. In manchen Momenten gewährt „Betrayed“ tatsächlich einen Einblick in eine Mentalität, die die Moderne nicht nur als Zumutung, sondern tiefe Kränkung empfindet.
In seinen Memoiren erwähnt Costa ebenfalls »The Tarner Diaries« (französische Verleger nehmen es nicht immer so genau mit amerikanischen Titeln) als einen Ausgangspunkt für Eszterhas' Recherchen. Dieses "Mein Kampf" der US-Rechtsradikalen war bereits in den 1970ern erschienen und von ihm waren seinerzeit schon über eine halbe Million Exemplare verkauft worden. Damit könnten die Parallelen zwischen beiden Filmen jedoch eventuell erschöpft sein. Eine befreundete Redakteurin, die »The Order« in Venedig sah, versicherte mir, die Erzählperspektive sei ganz anders. Ich erwähne diese Verwandtschaft, weil sie ein Beispiel für meine Behauptung ist, heute stände hinter jedem Film ein anderer, der ihm vorausging. Ein Bekannter sprach mich kürzlich auf diese Passage in meinem Eintrag über Eileen Gray ("Autobiographie eines Hauses", 4. 11.) an. Übrigens, wo wir gerade bei diesem Genre sind: Schon wieder ein neuer Dokumentarfilm über Nan Goldin? Mir hat »All the Beauty and the Bloodshed« vollends genügt. Gleichviel, mein Kollege vermutete, ich hätte dabei vor allem an die Generation der Filmstudenten gedacht, die im New Hollywood anfingen, Kino aus Kinoerlebnissen zu speisen. Dieser Impuls ist nicht von der Hand zu weisen, wenn man an Peter Bogdanovich (zwar kein Filmstudent, aber: »Is' was, Doc?« = »Leoparden küsst man nicht«), Brian de Palma (der nie von Hitchcock, namentlich von »Vertigo«, losgekommen ist) oder John Carpenter ("Assault on Precinct 13" = "Rio Bravo") denkt.
Das Phänomen geht jedoch weit darüber hinaus. Einige Regisseure drehen Filme ganz offen unter Einfluss (Pedro Almodóvar - Matador= Duell in der Sonne, Alles über meine Mutter = Alles über Eva - Die Haut, in der ich wohne= augen ohne Gesicht etc.), andere eher verstohlen (Nora Ephron).Bei diesem Thema denke ich übrigens weniger an das klassische, offizielle Remake, das sich weiterhin rüder Gesundheit erfreut. Ein Drittel des Werks von Luca Guadagnino etwa besteht inzwischen aus solchen. Auch Clint Eastwoods möglicher Abschiedsfilm »Juror #2« ist eines: Das Drehbuch von Jonathan Abrams beruht auf »Der siebte Geschworene« (1962, Regie: Georges Lautner), was während der Produktion durchaus zu erfahren war. Inzwischen ist es ein Geheimnis geworden, nicht einmal die enthusiastischen französischen Kritikern erwähnen diese Abkunft. Ein Fall schamvoller Verschleierung? Das Filmgeschäft und seine Geschichte pflegen ja die Verdrängung. Ich werde es in anderthalb Stunden bei der hiesigen Pressevorführung überprüfen. Das uneingestandene Remake ist ohnehin viel interessanter in diesem Zusammenhang. Man denke nur an »Goodbye, Lenin« oder die Monsieur Claude-Saga, die von zwei Louis-de-Funès-Vehikeln abstammen ( Hibernatus / Onkel Paul, die große Pflaume bzw. »Die Abenteuer des Rabbi Jacob«). Dass Norma Barzman erwog, einen Plagiatsprozess gegen die Produzenten von »Gladiator« anzustrengen, habe ich gewiss an dieser Stelle schon erwähnt. (So groß sind die Ähnlichkeiten zu "Der Untergang des Römischen Reiches" aber dann doch nicht.) Bertrand Tavernier wies mich einmal auf zwei Beispiele aus dem Hollywoodkino der späten 1980er Jahren hin, die keinem Kritiker bis dahin aufgefallen waren: Eastwoods Regiedebüt »Play Misty for me« lieferte die Blaupause für »Fatal Attraction« und der prächtige Film noir »Pushover« (mit Kim Novak und Fred McMurray) die für »Der Mann im Hintergrund«, einen der besseren Filme von Ridley Scott. Ich hielt seinerzeit dagegen, der zweite Teil der Mad Max-Saga, »The Road Warrior«, beruhe doch wesentlich auf »Mein großer Freund Shane«, was ihn nicht vollends überzeugte.
Da befinden wir uns auch eher in der Sphäre des Modells, dessen Funktionieren verlockend sein und vielfältig adaptiert werden kann. Kurosawas »Die sieben Samurai« gehört hier an erster Stelle genannt angesichts der zahlreichen Neuinterpretationen in anderen Genres, dem Western, der Science Fiction oder dem Animationsfilm. In diesem Zusammenhang fällt mir selbstverständlich auch »Chicken Run – Hennen rennen« ein, der das Ausbruchsepos »Gesprengte Ketten« auf einem Bauernhof als Knetanimation nachspielt. Erwähnen will ich ebenfalls die Linie, die sich von Leo McCareys »Kein Platz für Eltern« über Ozus »Reise nach Tokio« zu Doris Dörries »Kirschblüten – Hanami« ziehen lässt.
Das Portal "Indiewire" ist aktuell emsig bemüht und mitunter groß darin, solche Modelle herauszuarbeiten. Da erzählt beispielsweise Sean Baker ausführlich davon, welch großen Einfluss Fellinis »Die Nächte der Cabiria« auf seinen Cannes-Sieger »Anora« hatte und verschweigt auch die topographische (und zeitliche: als Geschichte einer Nacht) Verwandtschaft zu »The Warriors« zu erwähnen. Auch Originalität hat Vorläufer. Gerade hat einer der „Indiewire“-Autoren aufgespürt, wie stark sich Pablo Larrains Callas-Film an Maximilian Schells »Marlene« anlehnt - ganz pfiffig: man kann für beide die gleiche Synopsis verfassen, muss nur die Namen austauschen. Weniger überzeugt haben mich die Überlegungen eines Autors, Richard Linklaters Umgang mit der Zeitstruktur in »Hitman« (A Killer Romance) ähnelte der des Film noir »The Dark Corner« (Feind im Dunkel, Regie: Henry Hathaway). Die Parallelen erschlossen sich mir auch beim dritten Lesen nicht wirklich. Immerhin verdanke ich dem Text jedoch das doppelte Vergnügen, mir die Filme noch einmal anzuschauen. Aber nun genug der Assoziationsspiele. Jetzt schnell in den Eastwood. Hätte nicht gedacht, dass ich rechtzeitig fertig würde mit meiner ausschweifenden tour d' horizon.
PS: Weder im Vor- noch im Abspann von "Juror # 2" wird der französische Vorgänger genannt.
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