Oldenburg: Der unabhängige Film lebt

Eindrücke vom 31. Filmfest Oldenburg
»The Second Act« (2024)

»The Second Act« (2024)

Eindrücke vom 31. Filmfest Oldenburg

In der Erinnerung ist das Filmfest Oldenburg des Jahrgangs 2024 ein Bild in Schwarzweiß, im klassischen Normalformat. Das begann schon mit dem – auch in diesem Jahr wieder eindrucksvollen – Trailer, diesmal eine Hommage an Chris Markers Fotofilm »La Jetée«, in der Bilder von den Gästen früherer Jahre mit einer futuristischen Off-Erzählung zusammengebracht wurden. Dazu fügten sich auf den Kinoleinwänden ikonografische Momente: von einem jungen Mann und seiner nächtlichen Odyssee durch die Seitenstraßen einer Großstadt auf der Suche nach seinem selbstgebauten und dann gestohlenen Fahrrad (Max Trains »James«, der am Ende den Zuschauerpreis erhielt) oder dem nicht gerade sympathischen Geschäftsmann, der nach einer durchzechten Nacht in einer kleinen Raum aufwacht, aus dem es kein Entrinnen gibt und der jetzt verzweifelt versucht, sich zu erinnern, was passiert ist, welche Schuld er möglicherweise auf sich geladen hat und wer sich dafür an ihm rächen möchte (Nicolai Schümanns »The lonely musketeer«). Oder in der imaginierten Brieffreundschaft zweier Seelenverwandter, der Schriftsteller Fernando Pessoa und H. P. Lovecraft, die in ihren Werken die Dämonen aus dem Unterbewusstsein an die Oberfläche ziehen (in Edgar Peras portugiesischen »Telepathic Letters«).

Genauso ist es aber auch die Erinnerung an Gesichter: das des jungen Liam, gerettet aus der familiären Hölle eines gewalttätigen Elternhauses, der sich jetzt in einer Einrichtung für gefährdete Jugendliche mit neuen Akten der Bedrohung auseinandersetzen muss (»Skunk« des Belgiers Koen Mortier), das der Schauspieler Vincent Lindon, Léa Seydoux und Louis Garrel, die in »The Second Act«, der neuen absurden Groteske von Quentin Dupieux, wiederholt aus ihren Rollen fallen, hadernd mit dem Drehbuch oder den darstellerischen Leistungen ihrer Kollegen. Andere Figuren, die einander lange mit ungewissem Ausgang auf begrenztem Territorium umkreisen, präsentierten Isild Le Besco bei einem Familientreffen mit »My Darling Family« sowie Hala Matar (Regie) und Daryl Wein (Produzent und Darsteller) bei der kriminellen Intrige von »Electra«, während Christophe Honoré in »Marcello mio« Chiara Mastroianni eine zunehmende Obsession zu ihrem verstorbenen Vater Marcello entwickeln lässt, die sie in dessen Doppelgänger verwandelt, womit sie nicht nur ihre Mutter Catherine Deneuve, sondern ihr ganzes Freundesumfeld zur Verzweiflung treibt. Und es war das Gesicht von Tim Blake Nelson, der in Vincent Grashaws »Bang Bang« als abgehalfterter Ex-Boxer das Talent seines Enkels zu erkennen glaubt und versucht, an einstige Zeiten des Ruhms anzuknüpfen, indem er aus ihm eine neue Version seines einstigen Selbst formt (und nebenbei noch eine alte Rechnung begleichen will, mit einem anderen Ex-Boxer, jetzt ein erfolgreicher Lokalpolitiker, dem er unterstellt, dass er sich hat bestechen lassen und einen entscheidenden Kampf absichtlich verloren hat). Für diese tour-de-force wurde Nelson am Ende zu Recht mit dem Schauspielpreis ausgezeichnet.

Das unabhängige Kino ist so vital und kreativ wie in den achtziger Jahren, diesen Eindruck konnte man in Oldenburg gewinnen. Tatsache bleibt aber auch, dass man dies eher auf kleinen, engagierten Festivals erleben kann als im regulären Kinobetrieb. Auf Nachfragen war immer wieder zu hören, dass sich für diese Filme in den USA kaum ein Verleih finden ließe und dass auch die großen Streamingdienste daran kein Interesse hätten.

Mit der Weltpremiere des Films »One-way ticket to Paradise« knüpfte das Filmfest Oldenburg (das auch in seiner 31. Ausgabe wiederum neue Arbeiten von Regisseuren präsentierte, die dem Festival seit langem verbunden sind und die hier, wie etwa Buddy Giovinazzo oder Douglas Buck, auch als Moderatoren der Publikumsgespräche überzeugten), in diesem Jahr auch an eine schöne Tradition der Zusammenarbeit von Filmemachern an. Sie hatte 2001 auf nationaler Ebene mit den »99euro-films« begonnen und wurde zwei Jahre später auf europäischer Ebene mit »Europe  99euro-films 2« fortgesetzt: für einen geringen Betrag drehen Filmemacher einen Kurzfilm, die Kurzfilme werden zu einem Langfilm zusammengefügt, teilweise mit einer Rahmenhandlung und überleitenden Miniaturen versehen, der auf dem Festival Premiere hat und nach seiner Festivalrunde sogar im regulären Kinoprogramm auftaucht. Die Idee für »One-way ticket to Paradise« stammte von dem belgischen Musikduo Pornographie Exclusive (Jerome Vandewattyne & Séverine Cayron), die die Premiere im Oldenburger Staatstheater in ein Konzert einbetteten.

Zum Programm von Oldenburg gehören immer auch Retrospektive und Hommage. Letztere war diesmal zwei Filmschaffenden aus Myanmar gewidmet (die dort angesichts der politischen Verhältnisse untertauchen mussten) und wurde hier bereits vorgestellt, die diesjährige Retrospektive galt Dominik Graf, dessen sechs hier gezeigte Kinoarbeiten gut besucht waren, auch eine zweistündige Masterclass am Samstagmittag fand zahlreiche Zuhörer:innen. Am Ende konnte das Festival einen beachtlichen Zuschauerzuwachs von 20% vermelden.

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