Interview: Thelma Schoonmaker über »Made in England«
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Mrs. Schoonmaker, was war die Initialzündung für »Made in England«?
Nick Varley, der früher die Firma Park Circus repräsentierte, die die Kinorechte an diesen Filmen hält, machte uns den Vorschlag, etwas zusammen mit dem British Film Institute zu machen, das Ende letzten Jahres im National Film Theatre in London eine große Retrospektive präsentierte.
Wir schlugen dafür David Hinton als Regisseur vor, der bereits ein schönes Powell-Porträt gemacht hatte, als Michael noch lebte. Das erwies sich als eine gute Idee, denn er nahm alles, was Marty je über Michael geschrieben oder gesagt hat, er bekam Material über Emeric von dessen Enkel und Biografen Kevin Macdonald und alles aus Martys Archiv von dessen Archivarin. Daraus formte er diesen Film. Das war keine einfache Aufgabe, er musste uns auch zügeln, was die Länge anbelangte.
In »Made in England« gibt es viele Szenen, bei denen Martin Scorsese die filmischen Mittel analysiert, etwa den Einsatz von Farbe und Musik. Würden Sie sagen, das trifft auch Ihren Bereich zu, den Filmschnitt bei Powell & Pressburger – oder auch auf Michael Powells spätere Filme wie »Peeping Tom«, der ja gerade in einer neuen Restauration erschienen ist, zu der Sie auch beigetragen haben und im Bonusmaterial mit einem Interview vertreten sind. Gibt es etwas im Bereich der filmischen Erzählweise, was das Editing der Filme auszeichnet?
Ja, gerade »Peeping Tom« ist dieser Hinsicht sehr interessant, weil er von einer Frau geschnitten wurde, Noreen Ackland, die viele Jahre lang als Assistentin an Michaels Filmen beteiligt gewesen war. Michael beschloss, ihr eine Chance zu geben. »Peeping Tom« ist so wunderbar im ganzen Design, alles ist so sorgfältig ausgearbeitet, der Schnitt ist ebenso brillant wie die Kameraarbeit von Otto Heller. Für Marty ist der Schnitt die bevorzugte Phase bei der Filmarbeit, das liebt er geradezu, die Arbeit im Schneideraum, bei der wir alles gemeinsam machen. All die kühnen Entscheidungen, die Powell & Pressburger gemacht, haben einen tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen. Das war für seine Entwicklung als Filmemacher sehr wichtig.
Im zweiten Band seiner Autobiografie zitiert Michael Powell ausführlich die vernichtenden Kritiken, die in Großbritannien bei der Premiere des Films 1960 erschienen und ihn im Namen des »guten Geschmacks« verdammten...
Wenn man sich so weit aus dem Fenster lehnt, wie es Michael mit »Peeping Tom« getan hat, dann geht man ein Risiko ein. Michael sagte, es sei ihm lieber, man würde ihn als »geschmacklos« einstufen, als dass man ihn für konventionell halte. Er hatte den Eindruck »guter Geschmack« sei nicht etwas, was zu seiner Art des Filmemachens dazu gehörte. Er hat nie aufgegeben, an diesen Film zu glauben. Er wollte Menschen herausfordern, wollte sie in ihrem Innersten erreichen, ohne sentimental zu sein. Das hat Marty zu ihm hingezogen – ich glaube, der kroch schon als Regisseur aus dem Mutterleib (lacht). Als ich ihn an der New York University zum ersten Mal traf, war er schon so gut; sein erster Studentenfilm, »It's just not you, Murray« ist angefüllt mit so vielen wunderbaren Ideen, dass alle von uns, die ihn damals gesehen haben, sagten, »Er hat's drauf!«
Bevor Sie Martin Scorsese kennenlernten, gab es allerdings schon einen Powell-und- Pressburger-Film, der Sie stark beeindruckt hatte...
Ich erinnere mich noch sehr genau an einen Film, den ich im Alter von 15 Jahren im Fernsehen gesehen hatte und der mich sehr beeindruckt hatte, »Die roten Schuhe«. Sobald ich Marty kennenlernte, fing er an, von diesen Filmen zu erzählen – die er ja schon alle als Kind im Fernsehen gesehen hatte. Video gab es damals ja noch nicht. Als dann Video aufkam, schickte Marty mich regelmäßig aus dem Schneideraum nach Hause mit einem Film, um diesen anzusehen. »Das musst du dir unbedingt anschauen!« Das waren alles Filme von Michael Powell und Emeric Pressburger. Ich hatte eigentlich nie die Absicht, im Filmgeschäft tätig zu werden, das geschah alles durch Zufall. Glücklicherweise traf ich früh auf Marty, der mich sofort bat, mir diese Filme anzuschauen und darüber zu sprechen. Als wir »Wie ein wilder Stier« schnitten, sagte er zu mir, er habe gerade ein anderes Meisterwerk der beiden gesehen – das er sich eigentlich nie anschauen wollte, weil er befürchtete, es würde ihm nicht gefallen. Das war »I know where I'm going« und er wollte, dass ich mir das auf der Stelle ansehe – mit anderen Worten, er ließ mich nicht arbeiten für die Zeit, die der Film dauerte. Ich liebte den Film natürlich. Michaels Lieblingsort auf der Welt war Schottland, er verbrachte viel Zeit dort. Aber es war Marty, der mir die Kunst dieser Filme vermittelte – nicht nur mir, manchmal forderte er auch einen Schauspieler auf, sich einen bestimmten Film anzusehen. Das hatte jedes Mal Auswirkungen. Als Marty dann dem MoMA bei der Realisierung einer Michael-Powell-Retrospektive half, gelang es ihm auch, Michael in die USA zu holen. Er aß mit ihm zu Abend und ich war in dem Nebenraum seiner Wohnung, den er als Schneideraum hergerichtet hatte, mit dem Schnitt beschäftigt. Er fragte mich, »Würdest Du ihn gerne kennen lernen?« Ich antwortete: »Natürlich! Ich liebe seine Filme!« Ich saß dann mit ihnen an einem Tisch, Michael sagte nicht viel, aber wenn er etwas sagte, dann war das durchdacht. Als Marty und ich dann nach Los Angeles fuhren zur 'Oscar'-Verleihung 1981, wo auch »Wie ein wilder Stier« nominiert war, war Michael natürlich auch Teil unserer Gruppe. Dinge hatten angefangen, sich zwischen Michael und mir zu entwickeln, obwohl es einen Altersunterschied gab, aber das spielte keine Rolle, er hatte das Herz eines 16jährigen. Also es entwickelte sich etwas und dann mussten wir den Leuten erzählen, dass wir zusammenlebten (lacht). Mit Michael Powell zu leben war ein Traum – auf seinen Grabstein schrieb ich auf seinen Wunsch »Filmregisseur und Optimist« Und das war er. Er verschwendete keinen Augenblick. Es war bemerkenswert, ihn dabei zu beobachten, vom Moment, wo er die Augen öffnete und an seine Autobiografie dachte, bis zur letzten Mahlzeit, die er am Abend kochte, He genoss jede Minute des Tages – und mit so jemandem zusammenzuleben ist ein Wunder.
Martin Scorsese hat erwähnt, dass eine Bemerkung von Michael Powell ihn dazu veranlasste, »Raging Bull« in Schwarzweiß zu drehen. Können Sie Sich an andere solche direkten Einflussnahmen erinnern, die nicht von den Filmen, sondern von der Person Michael Powell ausgingen?
Ja, zunächst einmal war er sehr glücklich, nach so vielen Jahren der Nichtanerkennung wieder von Filmemachern umgeben zu sein, Sie sehen im Film ja auch, wie wohl er sich auf dem Gelände von Francis Ford Coppolas Zoetrope Studios fühlte, wo er als Berater engagiert war.
Er hatte hunderte von Ideen für neue Filmprojekte, manchmal schrieb er eine Inhaltsangabe, manchmal ein komplettes Drehbuch. »Nachdem ich Marty getroffen hatte, floss das Blut wieder durch meine Adern« schreibt er in seiner Autobiografie. Er begriff, dass es Menschen gab, die anerkannten, was er gemacht hatte.
Als Marty Michael nach New York brachte, wollte dieser gerne die Drehorte von »Mean Streets« sehen. Das machte Marty gerne, Robert De Niro war ebenfalls dabei, denn auch er war ein großer Fan der Filme von Michael Powell. Als Michael und ich durch die Straßen von New York gingen, fragte er mich, warum dieser Film nicht jeden Tag in New York im Kino zu sehen war. Das von ihm zu hören, war für Marty ziemlich wichtig.
Später haben sie sich auch die Aufnahmen angesehen von den Trainingsstunden, die De Niro absolvierte, um sich auf die Rolle von Jake La Motta vorzubereiten. Marty entwarf dabei in seinem Kopf die Choreografien für die Kampfszenen. Plötzlich sagte Michael: »Etwas stimmt nicht mit den roten Handschuhen.« Und Marty meinte: »Du hast Recht. Ich habe diese Kämpfe in Schwarzweiß gesehen, als ich ein Kind war, im Fernsehen mit meinem Vater.« Bei »Die Zeit nach Mitternacht« hatten wir kein gutes Ende und fragten jeden: Was sollen wir machen, nachdem Cheech und Chong die Statue, in die der Protagonist verwandelt worden war, gestohlen und in ihren LKW eingeladen haben? Michael sagte: »Er muss an den Ort zurückkommen, an dem er war, bevor seine nächtliche Odyssee begann, also jene Bürohölle, in der er von einem anderen Leben träumt.« Er hatte Recht, Marty hat das dann so gedreht. Und als er einen Rohschnitt von »Die letzte Versuchung Christi« gesehen hatte, mit dem Marty ja große Probleme hatte, weil der Film schon attackiert wurde, noch bevor ihn irgendjemand gesehen hatte, hatte er Tränen in den Augen. Ich sah Marty an und dachte: ein schöneres Geschenk hättest Du ihm nicht machen können. Michael war enorm wichtig, nicht nur durch seine Filme, sondern auch als Mensch. Er hat Marty immer wieder gut zugeredet, wenn der Zweifel an seiner eigenen Arbeit hatte.
Martin Scorsese hat die Filme von Powell und Pressburger durch das Fernsehen entdeckt, heute gibt es viele schöne Blu-rays, einiges kann man streamen. Sie bevorzugen vermutlich aber immer noch die Leinwand?
Definitiv. Wir kämpfen dafür, Film am Leben zu erhalten, Marty dreht alles auf Film. Das Material ist nach wie vor am haltbarsten und hat Bestand für einhundert Jahre, wenn das Material entsprechend gekühlt aufbewahrt wird. Das digitale Material ist nicht so stabil, das muss fortwährend transferiert werden.
Wir lieben aber auch einfach das Zelluloid, die Art, wie das Licht aus dem Projektor auf die Leinwand fällt – und nicht zuletzt, weil man das Filmerlebnis mit anderen Menschen teilt, die man lachen und weinen hört, das ist so wichtig. Michael sagte, »Ich habe meine Filme nicht gemacht, damit sie von einer einzelnen Person gesehen werden, die alleine im Zimmer sitzt.« Er wäre wohl eher geschockt davon, wie es heute aussieht. Andererseits wird dadurch auch viel verfügbar gemacht, ich denke etwa an den Criterion Channel. Als wir »Die roten Schuhe« restaurierten und den Film im MoMA zeigten, konnte man spüren, wie das Pulikum (zu dem auch Woody Allen gehörte) darauf reagierte, das so so wundervoll.
»Goodfellas« hat er nicht mehr sehen können?
Ich kam damals aus dem Schneideraum zurück nach Hause und erzählte Michael, dass Marty Schwierigkeiten hatte, ihn zu verkaufen, weil alle meinten, er müsse die Drogen herausnehmen. Michael war immer sehr besorgt über Scorseses künstlerische Freiheit, weil er selber in dieser Hinsicht so viel gelitten hatte. Wir arbeiteten damals gerade am zweiten Band seiner Autobiografie, ich las ihm das Drehbuch vor, weil Michael damals schon nicht mehr so gut lesen konnte. Danach sagte er, »Verbinde mich mit Marty.« Am Telefon sagte er dann zu ihm, das sei das beste Drehbuch, das er in den letzten zwanzig Jahren gelesen habe, er müsse den Film unbedingt machen. Das gab Marty Mut, es noch einmal zu versuchen und diesmal klappte es.
Welche Filme stehen als nächstes für eine Restaurierung an?
Die von Marty gegründete Film Foundation hat fünfhundert Filme restauriert, nicht nur amerikanische und britische Filme, sondern auch solche aus Ländern, wo es viel schwieriger ist, dafür Mittel aufzutreiben. »A Canterbury Tale« wurde nie restauriert, »Die schwarze Narzisse« nur teilweise. Wir können nicht alle Powell-und-Pressburger-Filme machen. Wobei uns das natürlich große Freude macht, acht von ihnen haben wir mittlerweile restauriert, ich werde nie müde, sie wieder und wieder zu sehen, wenn ich Farbe und Ton überprüfe.
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