Kritik zu Ihr Jahrhundert – Frauen erzählen ihre Geschichte

© Mindjazz Pictures

2023
Original-Titel: 
Ihr Jahrhundert – Frauen erzählen ihre Geschichte
Filmstart in Deutschland: 
07.03.2024
L: 
100 Min
FSK: 
Ohne Angabe

Uli Gaulke (»Havanna Mi Amor«) begleitet für seinen melancholisch-emanzipatorischen Dokumentarfilm fünf greise Frauen aus drei Kontinenten 

Bewertung: 4
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Nanammal Amma hat als Kind von ihrer Großmutter Yoga gelernt und später selbst als Lehrerin der Bewegtphilosophie Hunderttausende unterrichtet. Nermin Suley reiste 1936 mit fünfzehn Jahren allein von Wien nach Istanbul, um dort von der durch Atatürk propagierten kostenlosen Bildung zu profitieren. Später hat die erste Politikwissenschaftlerin ihrer Istanbuler Fakultät für ihre Forschung zur deutsch-türkischen Migration das deutsche Bundesverdienstkreuz erhalten. Ilse Helbich verließ nach einer Kindheit in autoritären Verhältnissen (»es war so ein sachlicher Umgang mit mir«) und einer disfunktionalen, aber kinderreichen Ehe mit sechzig ihre Hausfrauenexistenz und startete eine zweite Laufbahn als Autorin. Tamar Eshel wurde schon mit vierzehn Mitglied der israelischen Haganah und hat während des britischen Mandats als Geheimagentin Jüdinnen und Juden mit gefälschten Pässen die Flucht nach Israel ermöglicht. Im Film wird die 101-Jährige für ihre spätere Tätigkeit als Abgeordnete bei einer Feier als »Wonder Woman« der Knesset gefeiert. Auch die 1915 geborene kubanische Poetin, Geschichtenerzählerin und Kulturpädagogin Haydée Arteaga Rojas wird bei einer Lesung für ihr Lebenswerk geehrt. 

2008 hatte Uli Gaulke für »Pink Taxi« einen (mental um Männer kreisenden) Moskauer Frauenkosmos mit der Kamera erkundet, 2018 mit »Sunset Over Hollywood« ein Altenstift für DarstellerInnen am Mulholland Drive porträtiert. Nun sind es fünf greise Frauen (die jüngste von ihnen ist zur Drehzeit Ende neunzig, die älteste weit über hundert) aus drei Kontinenten, mit denen der Regisseur ein ganzes Gebirgsmassiv an weiblicher Lebenserfahrung versammelt. 

Sie haben historische Umbrüche, Weltkrieg, Revolutionen und technischen und sozialen Wandel miterlebt. Aber auch private Irrungen und Wirrungen. Gemeinsam sind ihnen Eigensinn und das unbedingte Einstehen für eine als richtig erkannte Sache. So hat sich keine der fünf trotz des hohen Alters jemals »zur Ruhe gesetzt«.

Gaulkes Film begleitet die Porträtierten im Alltag und montiert die einzelnen Lebensgeschichten in freiem Rhythmus gegen- und ineinander. Dazwischen setzt er kurze emblematische Ortsansichten und filmisches Archivmaterial zur Markierung der historischen Distanz. Dabei werden zwischen den Szenen persönliche und gesellschaftliche Emanzipationsprozesse, aber auch Rückschläge und Desillusionierungen sichtbar. Und Abschiede. 

So ist die emotionale Grundstimmung des Films bei aller Tatkraft der Einzelnen eher Wehmut und reicht thematisch bis in die Gegenwart: Als die Erdogan-Regierung 2021 ihrer ehemaligen Istanbuler Hochschule einen regierungsnahen Rektor aufzwingt, unterstützt Nermin Abadan-Unat die Proteste dagegen mit Auftritten und Interviews. Und die einst für soziale Verbesserungen in ihrem Land kämpfende Tamar Eshel zeigt sich angesichts des Umgangs mit den Palästinensern deutlich resigniert beim Blick auf die zur Drehzeit aktuelle Situation.

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