Interview: Nicolas Winding Refn
Nicolas Winding Refn am Set von »Copenhagen Cowboy« (2022)
Nicolas Winding Refn (»Pusher«, »Drive«, »Copenhagen Cowboy«) ist beim 72. Internationalen Filmfest Mannheim Heidelberg Ende November mit dem »Grand IFFMH Award« ausgezeichnet worden. Mit dem Preis wollen die Veranstalter »die eindrücklichsten, stilprägendsten und innovativsten Filmemacher der Gegenwart« ehren. Bereits vor mehr als 20 Jahren war der dänische Regisseur und Drehbuchautor mit seinem zweiten Film, »Bleeder«, zu Gast beim Festival – nun kehrt mit unter anderem mit dem modernen Klassiker »Drive« im Rücken zurück. Im Interview mit Christopher Hechler und Tobias Jureczko vom »Cinelog«-Filmpodcast erzählt Winding Refn vom Kleidungsstil der 80er-Jahre, wieso er gerne mit Stille arbeitet und was das Kino seiner Meinung nach einzigartig macht
Christopher Hechler: Herr Winding Refn, auf diesem Festival sind »Pusher«, »Drive« und »Only God Forgives« zu sehen, was dem Zuschauer einen interessanten Blick auf Ihr Schaffen ermöglicht. Wie schauen Sie selbst zurück auf diese Phasen Ihrer kreativen Arbeit und was nehmen Sie daraus für heute mit?
Nicolas Winding Refn: Ich denke nicht so viel über die Vergangenheit nach. Ich wache morgens einfach auf und versuche durch den Tag zu kommen.
Christopher Hechler: Sie werfen also keinen Blick zurück auf Ihre eigenen Filme?
Ich bin mehr an der Zukunft interessiert als an der Vergangenheit. Ich denke, da gibt es mehr zu erleben.
Christopher Hechler: Nach »Drive«, der ein großer Erfolg war, gab es kein »Drive 2«. Stattdessen gingen Sie einen gewissermaßen radikalen Pfad weiter, in dem Sinne, dass Sie mit jedem neuen Projekt an Ihrer kreativen Vision festgehalten haben. In einem anderen Interview haben Sie einmal erzählt, dass die eine konstante Angst davor hätten, sich selbst zu wiederholen. Zwar unterscheiden sich alle Ihre Projekte voneinander, aber eine Handschrift ist deutlich erkennbar. Können Sie uns, mit der Angst, sich nicht wiederholen zu wollen im Hinterkopf, etwas über den Entstehungsprozess eines neuen Projekts erzählen?
Ich habe nicht wirklich einen Plan. Ich denke, es ist interessanter, keinen Plan zu haben. Eines Tages hat man eine Idee und diese Idee wird eine Sache. Diese Sache wird so etwas wie ein Konzept, von dort aus entwickelt sich das Ganze langsam weiter. Manchmal auch schnell. Aber ich habe kein Interesse daran, woher es kommt. Ich finde interessant, wo es potenziell hinführen könnte.
Tobias Jureczko: In »Drive« sind Szenen oft in zwei oder vier Teile eines Bildes aufgeteilt. Dadurch wird die Geschichte von einem breiteren Blickwinkel aus erzählt und es werden unterschiedliche Interpretationen dieser Szene möglich. Ein Beispiel dafür ist der leere Raum und die Rahmung im Flur mit Ryan Gosling und Carey Mulligan. Erst nach einigen Augenblicken füllt sich der leere Raum mit Oscar Isaac. Könnten Sie Ihre Vorgehensweise dabei weiter erläutern? Ist das eine Entscheidung, die schon während der Vorproduktion getroffen wird oder spontaner Einfallsreichtum am Set?
Nun, ich erstelle eigentlich kein Storyboard. Aber ich filme in chronologischer Reihenfolge. So kann ich sehen, wie sich der Film entwickelt. Und ich mag Leere genauso wie ich Langsamkeit und Stille mag. Ich mag all die Dinge, die in der heutigen Zeit als Feinde der Kreativität gelten. Heutzutage muss alles kompakt sein, voll sein. Es muss schnell sein, laut, beinahe anstößig. Wenn man Kinder hat, ermutigt man sie von einem jungen Alter an zu interagieren, zu atmen, sich bewusst zu sein und Raum, Zeit und Bewegung zu verstehen. Aber das alles passiert beinahe meditativ, damit sich das Gehirn entwickeln kann. Ich habe nie verstanden, warum das irgendwann aufhören muss, wenn wir erwachsen sind. In gewisser Weise entwickeln wir uns ständig weiter. Also: Flure sind interessant, weil sie Tiefe haben. Wenn man ein Bild mit einer gewissen Tiefe nutzt, hat man bereits eine Narrative. Mit ganz einfachen Elementen lässt sich daraus dann eine Storyline machen. Die Umgebung ist genauso wichtig wie die Menschen. So wie die Rahmen um die Umgebung herum genauso wichtig sind wie die Gesichter der Darsteller.
Tobias Jureczko: Jeder, der »Drive« gesehen hat, wird die ikonische Jacke erkennen, die Ryan Gosling im Film getragen hat. Welche Geschichte steckt hinter der Jacke und wie sind Sie dazugekommen, sie auszuwählen?
Ich bin in den 80er-Jahren in New York aufgewachsen und erinnere mich, dass ich immer sehr neidisch auf die Leute war, die diese Art Bomberjacke hatten, auf der ein Tier abgebildet war. Ich glaube, meine Mutter mochte diese Kleidung nicht, deshalb habe ich nie eine bekommen. Beim Driver (Ryan Gosling) war die Idee, ihm eine Art Tier-Repräsentation zu geben. Und offensichtlich auch, das Konzept der Bomberjacken zu nutzen, also etwas, das glänzt wie Satin – üblicherweise waren das damals Satinjacken. Ryan ist enorm sensibel was seine Garderobe angeht und er versteht wirklich, wie wichtig es ist, was man als Schauspieler trägt. Wir haben eine Bomberjacke gefunden in der er sich wohlfühlte und haben sie nachgemacht. Ursprünglich wollte ich ein maskulineres Tier verwenden – wie ein Pferd oder einen Adler. Aber eines Tages war ich mit dem Kostümdesigner unterwegs, um mir die Garderobe für eine Werkstatt anzusehen. Ryan hat gelernt, wie man ein Auto zusammenbaut. Dann dachte ich an »Scorpio Rising«, ein Film von Kenneth Anger. Ich habe den Film auf meinem Telefon angemacht, am Anfang ist ein Skorpion zu sehen – und das war's. Das Design des Skorpions ist eine Replik vom Skorpion aus Angers Film.
Christopher Hechler: Ich finde interessant, was Sie über Leere in Szenen gesagt haben. Als Zuschauer hat man oft das Gefühl, dass es auch während der Dialoge viel Leere gibt, wenn eine Figur auf die Antwort einer anderen wartet – was manchmal eine Weile dauert. In einer Dokumentation sagten Sie einmal, dass Sie Dialoge erst später hinzufügen, nachdem Sie sich eine Szene schon ausgedacht haben. Wie betrachten Sie Dialoge – sind sie etwas, dass sie schlicht nutzen müssen, um den Zuschauer mitzunehmen?
Film ist in erster Linie ein visuelles Medium. Sprechen und Performen – es ist eine Art interessantes Konzept: Wie reagiert man auf etwas, das essenziell so künstlich ist wie eine Darbietung? Aber ich bin sehr interessiert an Stille, weil ich meine Karriere mit einem größeren Interesse an Authentizität und einer naturalistischen – und dadurch dialoglastigeren – Performance begonnen habe. Aber man kommt schnell zum Verständnis, dass Film letztlich ein visuelles Medium ist. Und es geht darum eine Geschichte zu erzählen. Für mich ging es also eher darum zu sehen, wie man Dialog loswerden kann. Nicht, weil Dialog nicht notwendig und speziell für Schauspieler etwas Fantastisches ist. Sondern wegen der Frage: Ist da eine purere Essenz in dem was man sagt? Wenn man also etwas sagt, gilt: Je weniger man sagt, desto mehr sagt man.
Christopher Hechler: Weil Sie die Stille schon angesprochen haben: Es gibt viele wunderschöne Aufnahmen in Ihren Filmen, die oft sehr still sind. Trotzdem ist da dieses konstante Gefühl einer inhärenten Gewalt, die nur darauf wartet, auszubrechen – und dies auch oft macht. Wie denken Sie sich solche Szenen vor Drehstart aus, wenn Sie etwas Schönes zeigen, zugleich aber auch diese Art von Spannung vermitteln wollen?
Ich denke darüber nicht so viel nach. Es ist eher so, wie wenn man ein Bild malen wollen würde – wie würde es aussehen sollen? Alles in einem Bild zählt. Spannung zu erzwingen ist interessantes Konzept. Die Idee dabei ist, dass man sich der Erfahrung ganz hingeben muss – und die Erfahrung etwas zurückgibt.
Christopher Hechler: Einige Regisseure sagen oft, was sie vom modernen Kino halten. Sie nicht. Beobachten Sie das Kino oder sind Sie interessierter an dem, was Sie selbst schaffen können?
Ich bin an allem interessiert. Ich schaue aber nicht mehr so viel wie früher, als ich noch jünger war. Außerdem habe ich zwei Streaming-Shows gemacht (»Too Old To Die Young« bei Prime Video und »Copenhagen Cowboy« bei Netflix), weil das Format für mich offensichtlich sehr faszinierend war. Aber ich denke immer noch, dass das Kino die Essenz von dem ist, was wir tun. Und das hat, denke ich, eine Menge mit der kollektiven Erfahrung in dieser kathedralenartigen Arena zu tun. Darin liegt eine Energie, die niemals irgendwo anders dupliziert werden kann. Ich schaue eine Menge Sachen auf meinem iPhone. Ich denke, es gibt viele tolle Dinge in allen Formaten. Aber in gewisser Weise sind das Kino und das Fernsehen nicht mehr so relevant wie andere Dinge, die meine Kinder beispielsweise nutzen – Social-Media-Apps etwa. Auch Gaming ist offensichtlich eine ganze andere Leinwand, die sich explosiv weiterentwickelt. Es ist also viel interessanter zu sehen, was die Zukunft bringt, als das, was man gerade bereits direkt vor sich hat.
Tobias Jureczko: »Copenhagen Cowboy« hat Sie zurück nach Dänemark gebracht – was wird Ihr nächstes Projekt sein?
Das weiß ich noch nicht. Ich habe einige Ideen, aber mich noch nicht entschieden.
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