Kritik zu Drive
Cooler Neo-Noir und kühne Eighties-Reminiszenz: Ryan Gosling gibt in Nicolas Winding Refns (»Valhalla Rising«, »Pusher«) düsterstilisiertem Genremärchen richtig Gas
Wahrscheinlich konnte nur ein Europäer diesen Film drehen. Einer, dem das amerikanische Kino überaus vertraut, das wahre Los Angeles dagegen eher fremd ist. Einer, der den Kopf voller Bilder und Mythen hat und nun darauf brennt, seine eigene Hollywood-Vision zu realisieren: eine Mischung aus Traum und Erinnerung, aus Huldigung und Neuerfindung.
Der Däne Nicolas Winding Refn ist in den 80ern aufgewachsen und ganz offensichtlich stark von den Filmen seiner Jugend geprägt. »Drive« sieht aus, als habe er die Essenz dieser Epoche erfassen wollen: jenen kühl-stilisierten Neon-Chic, den damals vor allem Leute wie Michael Mann, Walter Hill und Paul Schrader prägten. Von den geschwungenen Titeln in knalligem Pink über die schmalzigen Synthiepopsongs bis zur artifiziellen Kameraarbeit, die dem Film etwas Elegisches und Komponiertes verleiht, bedient sich Refn der Stilmittel dieser Vorbilder, schafft dabei aber das Kunststück, auf direkte Zitate zu verzichten. Ihm geht es eher um Stimmung, Atmosphäre und Haltung – und darum, die Hommage nicht als Selbstzweck zu betrachten, sondern sie in etwas Neuem aufgehen zu lassen.
Der Driver (Ryan Gosling) ist ein Mann ohne Namen und Vergangenheit. Alles in seinem Leben dreht sich um Autos. Als Stuntman fährt er sie kunstvoll zu Schrott, als Mechaniker bringt er sie nicht minder versiert in Schuss. Und nachts steuert er mit schlafwandlerischer Sicherheit Fluchtwagen durch die Straßen von L.A. Er lebt mit, in, für Autos. Mit den Menschen hat er es dagegen nicht so. Er macht wenig Worte, dockt nirgendwo an. Nur einmal telefoniert er mit jedem Kunden, erklärt knapp seine Regeln: Auf ihn kann man sich verlassen, doch länger als fünf Minuten wird er nicht warten am Tatort. Wer zu spät kommt, den bestraft das Gaspedal.
Natürlich ist dieser Driver ein einsamer Wolf und als solcher eine Kunstfigur am Rande des Klischees. Er ist verwandt mit Ryan O’Neals Figur aus Walter Hills »The Driver«, auch mit De Niros aus »Taxi Driver«, einem Ostküsten-Pendant. Ryan Gosling spielt ihn ganz reduziert, nahezu wort- und reglos, und trotzdem lässt er ihn nicht als harten Loner erscheinen, sondern als sanften, fast schüchternen jungen Mann, der jenseits von Autos und ihrer effizienten Verwendung keinerlei Ambitionen im Leben hat. Aber dann kommt, wie immer, eine Frau dazwischen: die Kellnerin Irene (Carey Mulligan), die mit ihrem kleinen Sohn auf derselben Etage wohnt.
Refn erzählt die Liebesgeschichte beinah körperlos: Einmal legt Irene ihre Hand auf die Hand des Drivers (die gerade auf dem Schaltknüppel ruht), ansonsten drücken sich die Emotionen nur über Blicke aus – über ein stilles, leuchtendes Lächeln, das beide beim Anblick des anderen spontan überkommt und das in seiner Unschuld ungeheuer berührend ist. Als Irenes Mann Standard (Oscar Isaac) aus dem Gefängnis freikommt, wird der Driver unverhofft in einen Racheplot verwickelt, der ihm regelrecht um die Ohren fliegt.
Die Handlung ist reiner Pulp, sie basiert auf einem Krimi von James Sallis und dreht sich am Ende um konkurrierende Mafiosi (lustvoll: Albert Brooks und Ron Perlman) und ihre dubiosen Vorstellungen von Schuld und Sühne – und darum, wie der Driver versucht, sich aus ihrer Umklammerung zu befreien. Refns Inszenierung macht daraus ein erhabenes Genremärchen, in dem kein Detail dem Zufall überlassen bleibt. Jedes Bild ein minutiös durchkomponiertes Tableau, jede Großaufnahme ein Gemälde wie von Hopper, eine Studie der urbanen Einsamkeit. Besonders faszinierend ist Refns Mut zur Entschleunigung, die Langsamkeit, mit der er die Szenen entwickelt, die Ruhe, mit der er auf dieses geträumte Los Angeles schaut, die gelbgrün schimmernden nächtlichen Boulevards, die knallbunt schillernden Supermärkte, die grellen Nachtklubs und Bars. Nicht für eine Sekunde behauptet Refn irgendeine Form von äußerem Realismus; vielmehr wagt er die konsequente Überhöhung, die komplette Künstlichkeit. Wenn der Driver Irene in einem Fahrstuhl dann doch ein einziges Mal küsst, schiebt er sie in Zeitlupe in die Ecke der Kabine, das Licht wird wie von Geisterhand gedimmt, und für ein paar Sekunden siegt die Romantik – bevor sich kurz darauf die Gewalt in aller Drastik Bahn bricht.
Stream [arte bis 29.11.2020]
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