Unterirdisch

Vulgarität, das lehrte mich Vittorio De Sica in dieser Woche, zeigt sich nicht in Worten, sondern in Haltung und Taten. Diese Weisheit entnahm ich der flotten Nachkriegskomödie ABASSO LA RICHEZZA (Nieder mit dem Reichtum), wo er einen verarmten, noch immer vornehmen Grafen spielt. Menschenkenntnis ist ein rares Gut in diesem Film, denn Anna Magnani geht als seine neureiche Vermieterin einer Bande von Hochstaplern auf den Leim. Womit wir bei Tim Ballard wären, über dessen Heldentaten Sie ab diesem Mittwoch in SOUND OF FREEDOM staunen können.

Der Thriller nimmt sich diverse Freiheiten im Umgang mit der wahren Geschichte, die er zu erzählen vorgibt. Gleiches gilt für die „Organisation Underground Railroad“ (OUR), die Ballard vor einem Jahrzehnt gründete, um den internationalen Sexhandel mit Kindern zu bekämpfen. Diese Gründung implizierte, dass es der Eigeninitiative bedurfte, um diesen Kampf effektiver zu führen als einschlägige Behörden. Dazu rekrutierte der Mormone aus Kalifornien ehemalige CIA-Beamte, Navy Seals und weitere Militärangehörige. Die Einsätze von OUR sind generalstabsmäßig organisiert und geschehen nach Selbstauskunft in enger Absprache mit lokalen und US-amerikanischen Bundesbehörden. Nur haben diese oftmals nie davon gehört, wie das Magazin „Vice“ herausfand.

Es meldete bereits früh Zweifel an den Behauptungen der Organisation an und widmet ihr 2020 einen long read, bei dessen Lektüre sich die Haare sträuben (A Famed Anti-Sex Trafficking Group Has a Problem With the Truth (vice.com) ). Ein zentraler Punkt ihrer Recherchen betrifft die angebliche Rettung eines Mädchens, das den Decknamen Liliana trägt. Bei öffentlichen Auftritten erzählte Ballard regelmäßig ihre Geschichte. Alter und Herkunft des Opfers unterschieden sich indes in seinen zahlreichen Berichten und am Ende stellte sich heraus, dass „Liliana“ sich selbst befreit hatte. Großen Eindruck machte die Erzählung gleichwohl, namentlich auf Ivanka Trump, die Ballard zeitweilig als Berater verpflichtete. Die abweichenden Angaben störten offenbar weder sie noch ihren Vater Donald, der dem glühenden Befürworter seines Grenzzauns zu Mexiko kurzerhand den Vorsitz einer Kommission zum Sexhandel antrug.

Wenn man sich TV-Auftritte und Interviews mit Ballard anschaut, lernt man einen Mann kennen, der seine Mission mit Hingabe vertritt. Er besitzt Charisma und Überzeugungskraft. Auf Marketing versteht er sich ebenfalls – seine Organisation ist immerhin weitgehend auf das Wohlwollen von Spendern angewiesen. Zudem sieht er, auf sehr amerikanische Weise, gut aus; man könnte ihn glatt für einen Bruder des Fernsehstars Mark Valley halten, mit dem er die willensstarke Kinnpartie gemeinsam hat. Seine ganze Familie sieht übrigens strahlend aus, was ein Foto im Abspann von SOUND OF FREEDOM hinreichend beglaubigt. Darauf ist ein unerbittlich lächelnder Klan von Blondschöpfen zu sehen. Eine beträchtliche kinetische Wucht eignet auch den paramilitärischen Unternehmungen von OUR, deren Mitwirkende sich bei ihren Einsätzen selbst gern filmen. Der fahrlässige Gung-Ho-Stil ihrer Rettungsaktionen hat die Kritik zahlreicher Opferorganisationen und inzwischen auch der Vereinten Nationen auf sich gezogen. Das Bild, das OUR und in deren Schlepptau eben auch SOUND OF FREEDOM vom Krieg gegen den Sexhandel entwerfen, mutet aus ihrer Sicht ebenso spekulativ an wie Liam Neesons Feldzüge in der TAKEN-Saga.

Das finanzielle Gebaren von OUR ist laut „Vice“ notorisch undurchsichtig, was sich nicht nur durch den klandestinen Charakter ihrer Aktionen erklären lässt. Bekannt ist allerdings, dass deren CEO das eigene Salär stetig erhöhte; zuletzt betrug Ballards Jahresgehalt über eine halbe Million US-Dollar. Das Vermarktungspotenzial seiner heroischen Mission erkannte er rasch. Immerhin ging er schon zwei Jahre nach Gründung von OUR mit seinen Lebensrechten in Hollywood hausieren. Eine Fernsehserie wäre ihm wohl lieber gewesen, wozu es nach Ballards Sündenfall (siehe meinen kurzen Hintergrundartikel zum Phänomen SOUND OF FREEDOM im aktuellen Heft) eventuell nicht mehr kommen wird. Aber der Film schmeichelt seiner Eitelkeit vorerst schon genug.

Für seinen Darsteller Jim Caviezel, der wie Ballard ein Mitglied von Qanon ist, könnte dies die Rolle seines Lebens sein. Sie vereint Züge seiner öffentlichen Person (er fühlt sich als Konservativer und gläubiger Christ in Hollywood ausgegrenzt) mit denen seiner TV- (trotz allem spielte er in der langlebigen Serie PERSON OF INTEREST einen ehemaligen Bundesbeamten, der das Gesetz selbst in die Hand nimmt) und Kino-Persona (als Jesus-Darsteller für Mel Gibson). Dieser messianische Zug (Caviezel trat noch ein weiteres Mal als Christus auf) dürfte Ballard besonders gefallen haben.

Wie der Name seiner Organisation schon ankündigt, sieht Ballard sich in der Nachfolge der Abolitionisten, die im 19. Jahrhundert gegen die Sklaverei stritten. Dazu hat die Organisation Underground Rail nicht nur eine dokumentarische Hagiographie in Auftrag gegeben, sondern auch ein Gemälde, das sie 2017 zum Kauf anbot. Es ist im Netz leicht zu finden und führt uns zum Anfang zurück. Von Bildern sprach De Sica zwar nicht, aber auch ihnen kann Vulgarität eigen sein. Diese weder von Bescheidenheit noch Scham getrübte Beweihräucherung ist schier unfassbar. Das Gemälde zeigt Ballard, seine Frau und einen weiteren Mitarbeiter, die nachts auf einem Bahngleis schlafende Kinder in Sicherheit tragen. Dabei geben ihnen Abraham Lincoln, Frederick Douglass, Harriet Tubman und weitere Abolitionisten mit Laternen wohlwollend Geleit. Achten Sie auf den Heiligenschein über Ballards Haupt.

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