Weder Liebe noch Anarchie
Debütfilme fangen gern damit an, dass ihre Hauptfiguren morgens erwachen und die ersten Schritte in den Tag unternehmen. Das ist praktisch, simpel und zuweilen programmatisch. Lina Wertmüller hat es 1963 in »I Basilischi« (Die Basilisken) genau anders herum gemacht.
Sie eröffnet ihren Erstling mit der Siesta. Pünktlich nach dem Mittagessen legt sich zunächst die Familie ihres Protagonisten Antonio zur Ruhe. Da wir uns in der armen Südspitze Italiens befinden, teilt man sich zu zweit oder gar zu dritt das Bett. Unterdessen werden auch die weiteren Bewohner des Ortes von heftiger Müdigkeit befallen. Man schlummert allerorten und in jeder einigermaßen bequemen Position. Selbst im Hauptquartier der Kommunistischen Partei wird nicht mehr debattiert, sondern geschnarcht. Nur die Erzählerin, deren Stimme aus dem Off erklingt, kann nicht schlafen: "Es gibt zu viele offene Fragen."
Wertmüllers pragmatischer Auftakt ist alles andere als simpel, dafür aber programmatisch: Fortan wird sie von Trägheit und Apathie erzählen, die alle Generationen an ihrem Schauplatz lähmen. Morgen (2. 11.) eröffnet das Debüt im Filmhaus Nürnberg eine Retrospektive ihres Werks. Herrlich, dort steht der November also wieder im Zeichen des italienischen Kinos, zu dem die Regisseurin mit den weißen Brillenfassungen zahlreiche Facetten zwischen Farce, Satire und Tragik hinzugefügte. Sie ist ohnehin eine Rekordhalterin: die einzige Frau, die einen Italowestern inszenierte, die als erste für den Regie-Oscar nominiert war und die es dank der staunenswerten Länge ihrer Filmtitel ins Guiness-Buch geschafft hat.
Die Tragikomödien, die sie in den 1970ern mit Giancarlo Giannini und Mariangela Melato drehte, waren ein warmer Gefühlswert an den Kassen der Programmkinos zwischen Bielefeld und New York. Ich habe mir zur Einstimmung jedoch »Die Basiliken« vorgenommen, den ich eigentlich schon längst sehen wollte, seit ich vor gut einem Jahrzehnt im Filmmuseum in Turin einen kurzen Ausschnitt daraus sah. Der war irrsinnig munter - Antonio schlendert in einer Totalen über einen Platz, in dessen Mitte ein kleiner Junge spielt, dem er Geld oder ein Bonbon gibt, woraufhin dieser anfängt, Twist zu tanzen – und ich hatte stets befürchtet, dass ich mit ihm den Film auf dem falschen Fuß erwischen würde. Immerhin hatte ich gelesen, dass er von Lethargie handelt. Im Englischen heißt er immerhin »The Lizards«, weil Wertmüller meinte, ihre Figuren seien so träge wie Eidechsen unter der Sonne Süditaliens. Jedoch ist ihr Film höchst aufgeweckt: eine noch nicht grelle, aber durchdringende Satire über den Müßiggang als Lebensschicksal. Tatsächlich steht er in der Nachfolge von Fellinis I Vitelloni« (Die Müßiggänger), ist aber politisch angriffslustiger und weniger autobiographisch. Die Regisseurin wurde in Rom geboren und hat einen distanzierten Blick auf die Sitten und Rituale des Südens. Ihre kindliche Begeisterung für Flash-Gordon-Comics teilt eine der Hauptfiguren allerdings. (Nebenbei ist es der wahrscheinlich erste Film, in dem ich Leute beim Lesen eines Giallo gesehen habe.) Ein Film also über gestundete, vergebliche Träume und über junge Männer, die ihr Leben vertrödeln. Nicht einmal ihr Begehren verrät Mumm. In dieser namenlosen Kleinstadt in Apulien reift man nicht, sondern wird einfach nur älter. Der Traum von Anderswo und Anderssein wird wortreich beschworen, aber bleibt fahl. Jeder, der dem Ort entfliehen wollte, jeder im Verlauf der Handlung zurück. Wenn wir gehen, räsoniert einer der Müßiggänger, wer bleibt dann noch?
Das letzte größere Ereignis, das sich hier zutrug, war eine Brandstiftung, die 1947 das Hauptquartier der Democrazia Cristiana verwüstete. Konfliktstoff gäbe es schon. Das Nord-Süd-Gefälle blitzt auf, als Antonios Tante aus Rom zu Besuch kommt und sich ihre Entourage über den üblen Geruch im Ort beklagt. Einer von Antonios Freunden würde gern zusammen mit einer patenten Nachbarin eine Kooperative der Landarbeiter gründen, was auf den Widerstand der unentwegte Altfaschisten und einer Großgrundbesitzerin stößt und im Sand verläuft. Eine Witwe, die den ewigen Streit mit der Schwiegertochter nicht mehr aushält, stürzt sich vom Balkon. Das ist ein beklemmender Moment, den Wertmüller vielfach auflädt: Die Katholikin begeht mit dem Suizid eine Todsünde und bittet im letzten Moment mit einer markerschütternd kleinen Geste ihre Nachbarin, Schweigen zu bewahren.
An dieser Aufzählung werden Sie bereits bemerkt haben, dass hier die Frauen tatkräftiger, energischer und eventuell auch temperamentvoller sind. Die unsichtbare Erzählerin fungiert als ein sporadisches, aber schonungsloses und auch selbstkritisches ("Alles, was wir tun, ist reden, reden, reden...") Korrektiv der Antriebslosigkeit. Auf der Tonspur lässt Wertmüller daneben Ennio Morricone schelmische und mitunter abgründige Akzente setzen. Überhaupt konnte sie für ihr Debüt ein großes Team gewinnen, den Cutter Ruggiero Mastroianni, den Schwenker Pasqualino de Santis und den lichtsetzenden Kameramann Gianni di Venanzo. »Die Basiliken« ist in ein helles Schwarzweiß getaucht, ihm eignet eine plastische Schönheit, welche die Figuren nicht sehen, die deshalb aber nicht vergeblich ist. Die Szenerie ist atemraubend, der Drehort Minervino Murge liegt auf zwei Hügeln und lässt majestätische Blickachsen zu. Er besitzt eine enorme Dramatik, eine Spannung zwischen Höhe und Tiefe, zwischen Empor- und Herabsteigen, die an die Einwohner freilich vergeudet ist. Warum sollten Touristen hierher kommen, fragen sich die Tagediebe, hier gibt es doch nichts zu sehen. Das Fremdenverkehrsbüro ist da heute ganz anderer Ansicht und preist die Stadt als den "Balkon Apuliens". Als Wertmüller hier drehte, zählte sie noch rund 18000 Einwohner, inzwischen nur noch die Hälfte. Einige haben es also geschafft, der Lethargie zu entkommen.
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