Nachruf: Michael Gambon
Michael Gambon in »Judy« (2019). © Entertainment One
19.10.1940 – 27.9.2023
Britische Schauspieler haben ein besonderes Verhältnis zur Hässlichkeit: Sie geniert sie nicht. Sofern sie nicht selbst über sie verfügen, gehen sie oft auf die Suche danach. Sie setzen sich eine falsche Nase auf oder ein schiefes Gebiss, um in derlei Maskierung den Makel ihrer Figur –
sagen wir mal Richard III. – kenntlich werden zu lassen.
Michael Gambon behauptete gern, sein Antlitz erinnere an eine zerknüllte Plastiktüte und seine Zähne würden auseinanderstieben wie eine Herde wilder Pferde. Aus diesem Grund sagte er beispielsweise das Angebot ab, die Nachfolge George Lazenbys als Bond-Darsteller anzutreten. Allerdings irrte sich der Schauspieler gewaltig. Tatsächlich besaß er ein ansehnliches Gesicht. Seine nicht unnötig mit Haaren bedeckte Stirn gab den Blick frei auf Züge, in denen sich jede menschliche Regung spiegeln konnte. Seine Augen hatten viel gesehen, und die tiefen Ringe unter ihnen verrieten, dass dieser Mann ausgiebig gelebt hatte.
Erste Aufmerksamkeit erregte er vor der Kamera jedoch, als er die Maske des Krimiautors auflegte, dessen Erscheinung in der TV-Serie »Der singende Detektiv« von einer entsetzlichen Schuppenflechte entstellt wird. Jeden Moment fürchtete man, Hautfetzen könnten sich aus dem Gewebe lösen. Allerdings war er in Traum- und Erinnerungsszenen auch mit seinem tatsächlichen Antlitz zu sehen. So verkörperte er jene staunenswerte Dualität von Romantik und Sarkasmus, die in den Dialogen des Autors Dennis Potter angelegt war, der selbst an Schuppenflechte litt. Drei Jahre später, 1989, erlebte Gambon in Peter Greenaways »Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber« seinen Durchbruch im Kino. Der brutale Gangster, den er spielt, scheint geradewegs einer blutrünstigen jakobinischen Tragödie entsprungen: Diesen Albert Spica, dessen Name allein schon Unbehagen einflößt, zeichnet er als ein Kraftwerk der Barbarei, als einen Prahlhans von infernalischer Geschwätzigkeit, dem jede Niedertracht zuzutrauen ist.
Beides waren gleichsam enzyklopädische Rollen, in denen der in Dublin geborene Schauspieler auf eine bereits reiche, vielgestaltige Bühnenerfahrung zurückgreifen konnte. Laurence Oilivier nahm ihn jung in seine »National Theatre Company« auf. Bald wurde er zum Star des Ensembles und in der Folge zu einer Legende des englischsprachigen Theaters. Ralph Richardson taufte ihn »the Great Gambon«. Er brillierte im klassischen Repertoire (Shakespeare, Beckett, Brecht) ebenso wie in modernen Stücken von Alan Ayckbourn, David Hare und Yasmina Reza. Mit Harold Pinter verband ihn eine außerordentlich enge Beziehung. Er war, keineswegs nur als Hauptdarsteller, maßgeblich an der Entstehung von »Betrogen« beteiligt. Dieser Sprachschauspieler mit wuchtiger physischer Präsenz wurde nie ein Kinostar, von dem man geflissentlich annehmen könnte, er würde die Dialoge selbst erfinden, die er spricht. Er war ein präziser Interpret von Texten, denen er seine eigene Gravitas hinzufügte. Die Sprechrolle des garstigen Nachbarn in Wes Andersons Animationsfilm »Der fantastische Mr. Fox« gehört zu seinen Glanzleistungen.
Im Kino bewies er, dass es für große Schauspieler keine kleinen Rollen gibt. In »Insider« von Michael Mann genügte ihm 1999 ein Auftritt von vier Minuten, um die Figur eines Konzernchefs in ein Porträt verächtlicher Machtgewissheit zu verwandeln. Amerikanische Akzente lagen ihm ohnehin. In John Frankenheimers TV-Film Path to War trifft er genau den texanischen drawl des US-Präsidenten Lyndon B. Johnson, dessen Volkstümlichkeit er einen jovialen Zug der Vulgarität verleiht. Überwiegend jedoch bildete er auf der Leinwand zuverlässig die Facetten des britischen Klassensystems ab. Besonders vergnüglich war es, wenn seine Aristokraten standesgemäßen Umgangsformen nicht gewachsen waren – wie der ruppige Gastgeber in »Gosford Park«. Mit der Rolle des Albus Dumbledore in der Harry-Potter-Reihe nahm er noch einmal ein ganz neues Publikum für sich ein. In der Saga gemeinschaftlicher jugendlicher Ermächtigung, die nicht gerade arm an Mentorenfiguren ist, ließ er den Schulleiter zu einem Gewährsmann wehrhafter Güte werden. Das Herumfuchteln mit Zauberstäben brachte noch einen besonders schönen Aspekt seiner Erscheinung zur Geltung: seine großen Hände mit den langen Fingern, die dennoch wundersam feingliedrig wirkten.
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