Film des Monats November: »Anatomie eines Falls«
Die Schriftstellerin Sandra lebt mit ihrem Mann Samuel und dem elfjährigen Sohn Daniel in einem abgelegenen Chalet in den französischen Alpen. Als Samuel aus dem dritten Stock zu Tode stürzt, gerät Sandra unter Mordverdacht. Akribisch trägt die Staatsanwaltschaft Indizien zusammen, die auf eine krisenhafte Ehe hindeuten. Ein Autounfall, bei dem Sohn Daniel im Alter von vier Jahren nahezu erblindete, hat die Beziehung offensichtlich aus der Bahn geworfen. Lautstarke Streitigkeiten zwischen dem Paar waren keine Seltenheit. Und schließlich kommt noch heraus, dass Sandra sexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe hatte. Zur Schlüsselfigur der Verhandlungen wird Daniel als Hauptzeuge, seine Aussage gibt schließlich den Ausschlag.
Regisseurin Justine Triet verhandelt in ihrem Gerichtsthriller zeitgenössische Frauen- und Männerbilder ebenso wie Fragen nach dem Verhältnis von Schuld, Subjektivität und Wahrheit. Sie greift damit ähnliche Themen auf wie der 1959 erschienene Klassiker »Anatomie eines Mordes« von Otto Preminger, auf den sie deutlich anspielt – bis hin zur Länge von gut zweieinhalb Stunden, die durchgängig spannend bleiben. Getragen wird der Film vor allem von der herausragenden schauspielerischen Leistung von Sandra Hüller sowie großartigen Dialogen des von Triet gemeinsam mit Arthur Harari verfassten Drehbuchs.
Am Ende bleiben viele Fragen offen, von denen die, ob die Schriftstellerin Sandra es nun war oder nicht, wohl die am wenigsten spannende ist. Inwiefern hängen Vermutungen zu Schuld und Unschuld mit der Erfüllung gesellschaftlicher Erwartungen zusammen? Sind die Geschlechterklischees der 1950er Jahre wirklich überwunden oder kehren sie heute nur in neuen Gestalten zurück? Und vor allem: Lässt sich die Wahrheit über ein Ereignis überhaupt herausfinden, wenn keine direkten Zeugen oder Zeuginnen dabei waren? Nein, lautet die Antwort des Films. Letzten Endes liegt es an uns, zu entscheiden, wem wir glauben und wem nicht.
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