Kritik zu Gehen und Bleiben

© Salzgeber

2023
Original-Titel: 
Gehen und Bleiben
Filmstart in Deutschland: 
20.07.2023
L: 
178 Min
FSK: 
Ohne Angabe

In seinem neuesten Film erkundet Altmeister Volker Koepp das Erbe von Uwe Johnson und das Land Mecklenburg – ohne die Aktualität, den neuen Krieg in Form des russischen Überfalls auf die Ukraine, zu vergessen

Bewertung: 4
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Vor dem Ufer des südenglischen Sheerness-on-Sea ragen aus der ausladenden Themse-Mündung im farbenprächtig schillernden Wasser schräg drei Masten aus den Fluten. Sie gehören zum 1944 mit 1400 Tonnen TNT als Ladung gesunkenen US-Frachter SS Richard Montgomery. Auf der Promenade sieht man ein paar verlassene Pavillons. An der Außenwand des Reihenhauses mit der Nummer 26 berichtet eine Plakette, dass hier der Schriftsteller Uwe Johnson von 1974 bis 1984 wohnte. Dass er in diesem Jahr auch hier starb, wird nicht erwähnt. 

Johnson, der 1934 im Pommerschen Cammin geboren wurde, in Mecklenburg aufwuchs und am 10. Juli 1959 mit der ­S-Bahn aus der DDR hinaus erst nach Westberlin und später nach New York und nach England reiste, ist (auch mit durch ihn und anderen vorgetragenen Texten) Sujet dieses Films. Die Vorstellung des Protagonisten überlässt Regisseur Volker Koepp diesem selbst durch Einblenden eines schelmischen Bewerbungsfilms: »Von 1952 bis 1956 Studium der Germanistik und weiterer Folgen des Krieges in Rostock an der Warnow und Leipzig an der Pleiße. […] 1959 Rückgabe einer Staatsangehörigkeit an die DDR nach nur zehnjähriger Benutzung und Umzug nach Westberlin.«

Johnson ist für Koepp aber auch ein Medium, um den interessierten Blick von ihm und seinem Werk weiter hinaus auf die Landschaften und (oft Johnson-affinen) Menschen Mecklenburgs zu richten. Und auf die titelgebende Frage nach dem Fortgehen und dem Bleiben, die viele dieser Menschen umtreibt. Die Lyrikerin Judith Zander etwa, der Schauspieler Peter Kurth oder der alte Landwirt Fritz Rost, der auf dem Marktplatz von Anklam erzählt, dass er sein ganzes Leben in einem zwölf Kilometer entfernten Dorf gelebt und zwei Brüder im Krieg verloren habe. Ein Niederländer hat sich gerade ein Haus in Mecklenburg gekauft. Und Heinz und Hanna Lehmbäcker waren mit Johnson befreundet und können Anekdoten und viele Fotos aus der Studentenzeit zum Film beisteuern. 

Landschaften und Heimatgefühle, Fluchten und Verlustschmerz waren bei dem in Stettin geborenen Filmemacher, der mit Vorliebe im Raum zwischen Elbe und Memel drehte, immer wieder Thema. Zuletzt war es im »Seestück« (2018) die Ostsee. Dabei spielte in den letzten Filmen der verheerende Umgang mit der Natur thematisch eine immer stärkere Rolle. Doch in der durch die Pandemie verlängerten Drehzeit gab es mit dem russischen Überfall auf die Ukraine auch in Koepps Kosmos einen verstörenden Einschnitt, der das Wahrnehmungsfeld des Regisseurs neu justierte und im Schaffen des fast 80-Jährigen noch einmal ein neues Kapitel aufschlägt. »In der Gegenwart sind alle Hoffnungen der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts auf eine friedlichere Welt verflogen«, heißt es im zurückhaltenden Kommentar des Films. Referenzen zu diesem aufgezwungenen neuen Resonanzraum sind an vielen Stellen im Film zu finden und machen aus »Gehen und Bleiben« einen zwar zeitlos schönen, aber auch bitter aktuellen Film.

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