Großreinemachen

Justine Triet, die Regisseurin des diesjährigen Gewinners der Goldenen Palme, ist keine ausgesprochene Freundin der Politik Emmanuel Macrons. Anhänger des Neoliberalismus sind unter französischen Filmkünstlern ohnehin nicht breit gestreut. Aber nicht alle haben Gelegenheit, ihrem Unmut an so prominenter Stelle Luft zu machen.

Triet griff in ihrer Dankesrede die Sozialkälte der Regierung an, die die landesweiten Proteste gegen ihre Rentenreform wahlweise ignoriert oder mit oppressiver Gewalt auf sie reagiert. Sie beklagte aber auch die Verwerfungen in der Filmförderung, die sich unter ihrem aktuellen Präsidenten Dominique Boutonnat zusehends an kommerziellen Gesichtspunkten ausrichtet. Sie sieht die stolze "exception culturelle" des französischen Autorenkinos in Gefahr. Den Macron-Günstling selbst attackierte sie nicht explizit, das musste sie auch nicht. In der Branche ist seine ansonstige Visionsarmut hinlänglich bekannt. Und die Empörung ist groß, dass er eine zweite Amtszeit antreten konnte, obwohl seine Patentochter ihn sexueller Übergriffe beschuldigt und Strafanzeige erstattet hat.

Triets Diskurs dürfte inzwischen eine der meistkommentierten Cannes-Reden überhaupt sein. Die Regisseurin erhielt von der Linken und den Gewerkschaften viel Zuspruch für ihre Abrechnung mit der Macronie. Die aktuelle Kulturministerin Rima Abdul Malak (sie wechseln so oft, man kommt kaum mit) hingegen reagierte verblüfft, ja schockiert. Sie schalt Triet "undankbar", schließlich habe "Anatomie d'une chute" nur dank dieser Förderung entstehen können. Der unverhohlene Vorwurf, die Regisseurin beiße in die Hand, die sie füttert, fand wiederum große Zustimmung im Regierungslager und hallte dort als erpresserische Drohung nach, großzügig ausgeschütttete Fördergelder fortan an strengere Vorgaben zu knüpfen.

Das Filmökotop Frankreich stand an der Croisette ohnehin unter vielfachem Beschuss, wenngleich aus anderen Richtungen. Ein massives Unbehagen am System bricht sich Bahn: So kann es nicht weitergehen. Die Kontroversen entzündeten sich weniger am Festivalprogramm, wenngleich der Eröffnungsfilm, in dem ausgerechnet Johnny Depp die Hauptrolle spielt, eine dankbare Zielscheibe war. Die Empörung über ihn war von eher anekdotischem Belang. Weit bezeichnender waren die heftigen Debatten, die Catherine Corsinis Wettbewerbsbeitrag »Le retour« im Vorfeld auslöste. Im April, nach der Pressekonferenz wurden Vorwürfe gegen Teammitglieder und vor allem die Regisseurin erhoben, über die auch hier zu Lande ausführlich berichtet wurde (mein eigener Artikel verbirgt sich hinter der Bezahlschranke der "Welt"). Aber es brodelt im Milieu auch jenseits aktueller Filme, man denke nur an die Vorwürfe der sexuellen Belästigung, die sich gegenüber Gérard Depardieu stetig mehren.

In Cannes fand gewissermaßen ein Parallelfestival der Petitionen und Generalbrechnungen statt, das Michel Guerrin, der Chefredakteur von "Le Monde", in einem Leitartikel bilanzierte. Das nach den Olympischen Spielen weltweit größte Medienereignis verspricht einzigartige Öffentlichkeit. Guerrin gewann den Eindruck, in diesem Jahr komme alles auf den Tisch und er fragte sich, ob das Festival nun Ankläger oder Angeklagter sei. Der Forderung, die Klimabilanz der Filmbranche müsse sich dringend verbessern, konnten immerhin auch Festivalgäste zustimmen, die mit Privatflugzeug angereist waren. Steht fortan auch der Glamour (all die Luxusyachten) auf dem Prüftstand? Das sind keineswegs nachrangige Kampfzonen. Im Vordergrung jedoch stand das Bild einer Branche, die zusehends als toxisch wahrgenommen wird.

Den Auftakt gab die Schauspielerin Adèle Haenel, die eine Woche vor Festivalbeginn in einem Brief an die Zeitschrift "Télérama" ihren endgültigen Bruch mit einem patriarchalen System verkündete, das Agressoren (Polanski, Depardieu, Luc Besson) aus Bequemlichkeit und Komplizenschaft schützt.

Neben sexuellen Übergriffen steht indes zunehmend das autokratische Gebaren von Filmemacherinnen und Filmemachern im Fokus der Kritik. Die kanadische Regisseurin Mona Chokri, die mit ihrem neuen Film »Simple comme Sylvain« in der Sektion "Un certain regard" vertreten war, hielt ein flammendes Plädoyer gegen einen zerstörerischen Geniekult, der keine Achtsamkeit und Rücksicht kennt. Wann immer sie nach Frankreich käme, habe sie den Eindruck, das Land hinke der gesellschaftlichen Entwicklung um 30 Jahre hinterher – dort entdecke sie einen Bodensatz an Gewalt, Rassismus, Autokratie und Sexismus, der daheim in Québec längst überwunden scheint. An der Croisette lagen die Nerven blank, weshalb ich in diesem Stimmungsbild aus der Ferne auf keinen Fall den Streit unerwähnt lassen will, den Thierry Frémaux mit einem Polizisten vom Zaun brach, der den notorischen Fahrradfahrer vom Bürgersteig verscheuchen wollte.

Gleichviel, der Fall Corsini zeigt, dass mittlerweile eine den Franzosen heilige Institution angesichts veränderter sozialer Normen in Bedrängnis gerät: Wie weit darf der Autoritätsanspruch gehen, mit dem Filmemacher und Filmemacherinnen auf dem Set ihre Autorenschaft geltend machen? Tyrannen wie Clouzot und Melville könnten im heutigen Klima keinen Stich mehr machen, was ihre Filme natürlich keinen Deut schlechter macht. In der Kritik an Corsini entdecke ich auch einen Gegensatz der Generationen. Als Regisseurin gehört sie fast noch zu den Pionierinnen, war in ihren Anfängen noch mit weit massiveren Widerständen konfrontiert. Sie ist eine Kämpfernatur, die sich durchsetzt, in einem wohl auch hemdsärmeligen Stil. Er kollidiert mit dem Empfinden junger Teammitglieder, die es als selbstverständlich erachten, respekt- und schonungsvoll behandelt zu werden.

Eine Petition, die im Festivaltrubel weit weniger Aufsehen erregte, wurde von zwei Regieverbänden lanciert. Ihre Mitglieder sehen ihre Autorenrechte bedroht. Ihre Drehbücher werden mit zunehmender Willkür verändert, die Besetzungen werden ihnen auferlegt, die Filmkomponisten werden ihnen vorgeschrieben, Verleiher verändern die Montage ihrer Filme. Sie wollen ihr Terrain verteidigen, fordern von den Produzenten einverständliche Entscheidungen und ihre Nennung in Vor- und Abspannen und an prominenter Stelle in der Promotion der Filme. Sie verlangen, um mit Godard zu sprechen, den Adelsbrief zurück. Muss es verwundern, dass ihre Petition kaum ein Echo fand? 2023 scheint sie aus der Zeit gefallen, rein gar nicht im Einklang mit seinem aktuellen Geist.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt