Laura Poitras: Public Enemies

Laura Poitras am Set von »All The Beauty And The Bloodshed« (2022). © Participant Film, LLC.

Laura Poitras am Set von »All The Beauty And The Bloodshed« (2022). © Participant Film, LLC.

Die Dokumentarfilmerin Laura Poitras hat ein Faible für »Menschen, die Veränderungen herbeiführen«. Wie ­Edward Snowden oder Julian Assange. Dafür nimmt Poitras selbst Repressalien in Kauf. Jetzt hat sie einen Film über ­die Künstlerin und Aktivistin Nan Goldin gedreht

Bei einem Frühstück, das die deutsche Künstlerin Hito Steyerl 2019 organisierte, erzählte die amerikanische Fotografin Nan Goldin von ihrem Kampf mit der Aktivismusgruppe P.A.I.N. gegen die milliardenschwere Sackler-Familie, die in führenden Museen weltweit als Mäzen auftritt und seit Mitte der 1990er Jahre mit der Opioidkrise in den USA ein Vermögen verdient hat. Mit am Tisch saß die Dokumentarfilmemacherin Laura Poitras, die sofort die Relevanz und Dringlichkeit erkannte, weiter recherchierte und bald darauf vorschlug, Goldins Geschichte zu dokumentieren. Drei Jahre später, im vergangenen September, hatte ihr Film »All the Beauty and the Bloodshed« in Venedig Weltpremiere und wurde am Ende mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet. Am 25. Mai startet das herausragende Porträt nun auch in den deutschen Kinos. 

Es war nicht das erste Mal, dass sich der renommierten Regisseurin ein Stoff scheinbar unvermittelt offenbarte. Anfang 2013 hatte Poitras eine Mail mit dem Absender »Citizenfour« erhalten, in der ihr brisantes Material über globale Spionage- und Überwachungen der US-Geheimdienste angeboten wurde. Trotz anfänglicher Skepsis überwog ihre Neugier; Poitras begann nachzuforschen und erhielt erste verschlüsselte Dokumente. Der Informant entpuppte sich als ein junger Whistleblower namens Edward Snowden. Und Poitras wurde die erste und für einige Monate einzige Person, die von ihm und seinem hoch­brisanten Material wusste. Snowden hatte sie ausgewählt, weil er ihre früheren Arbeiten kannte, in denen sie den »Krieg gegen den Terror« der Vereinigten Staaten kritisch beleuchtet und systematische Überwachungen aufgedeckt hatte. Vor allem der Kurzfilm »The Program« über den Whistleblower William Binney, einen Mitarbeiter des Auslandsgeheimdienstes NSA, und die von ihm mitentwickelte Überwachungssoftware war für Snowden ausschlaggebend, der Regisseurin zu vertrauen.

»Citizenfour« (2014). © Praxis Films

Aus Angst vor Verfolgung und Zensur war Poitras nach Berlin gezogen, noch bevor Snowden sie kontaktierte. Von hier aus traf sie ihn zu einer Reihe von Interviews in Hongkong, in Berlin schnitt sie dann auch den Film, unter höchster Geheimhaltung und technisch abgeschirmt. Der Computer mit dem Material hatte keinerlei Zugang zum Internet. Mit »Citizenfour« riskierte sie viel. Doch immer im Dienst der Sache. Journalistisch einwandfrei und zugleich großes Kino. Weil Poitras Snowdens Enthüllungen wie einen schwindelerregenden Politthriller auffächert, mit sich selbst als Augenzeugin und Wegbegleiterin. 

Am Oscar für den besten Dokumentarfilm führte 2015 kein Weg mehr vorbei. Bereits zuvor hatte sie für die Artikelserie zu den Enthüllungen in der britischen Tageszeitung »The Guardian« den Pulitzerpreis gewonnen, zusammen mit ihrem Kollegen, dem amerikanischen Journalisten Glenn Greenwald. Für »All the Beauty and the Bloodshed« war sie in diesem Jahr erneut für einen Oscar nominiert, den am Ende Nawalny – über den russischen Kreml-Kritiker – erhielt.

Auch wenn in beiden Fällen der Funke von außen kam (und auch bei »All the Beauty and the Bloodshed« nicht zufällig: Hito Steyerl ist wie Goldin seit langem eine vehemente Kritikerin der toxischen Philanthropie der Sacklers), stieß er bei Poitras auf eine ebenso ­engagierte wie akribische Dokumentaristin, die sich obsessiv in Archivarbeit und Recherchen gräbt.

Die Berufung als nonfiktionale Filmemacherin erkannte Poitras relativ spät. Geboren 1964 in Boston, wuchs sie behütet und privilegiert auf. Ihre Eltern, Patricia und James, stifteten im Jahr 2007 dem renommierten MIT in Cambridge 20 Millionen US-Dollar für die Gründung des Poitras Center zur Erforschung affektiver Störungen. Die Tochter arbeitete zunächst als Köchin in einem französischen Nobelrestaurant in ihrer Heimatstadt, entschied sich dann aber für ein Filmstudium am San Francisco Art Institute, bevor sie Anfang der 1990er nach New York zog und einen Abschluss in Public Engagement machte, einem Fach, das sich mit der Interaktion zwischen Wissenschaft und Gesellschaft auseinandersetzt. Ihren ersten Dokumentarfilm drehte Poitras mit Anfang 40; »Flag Wars« beleuchtet die Gentrifizierung in Columbus, der Hauptstadt des Bundesstaates Ohio, und wurde auf mehreren Festivals ausgezeichnet. 

Seitdem arbeitet sie an der Grenze zwischen Journalismus, Film und politischer Kunst. Und immer stark auf Protagonist*innen in deren jeweiligen Kontexten fokussiert. »Mich interessieren Menschen, die Veränderungen herbeiführen«, sagt sie im Gespräch. Auch wenn sie auf den künstlerischen Aspekt ihrer Filme pocht, sind sie doch Teil des Aktivismus, den sie dokumentiert. Damit war sie schnell staatlichen Autoritäten ein Dorn im Auge, wurde Ziel von Repressionen. 2006 setzte sie das US-Außenministerium auf die Watch List, das Heimatschutzministerium stufte sie als »terrorverdächtig« ein. Grund war ihr zweiter Dokumentarfilm »Irak – Mein fremdes Land« (My Country, My Country) über die Bemühungen, im amerikanisch besetzten Irak Parlamentswahlen abzuhalten. Frustriert von der Berichterstattung etablierter Medien über den Einmarsch war sie 2004 in den Irak gereist und hatte dort acht Monate verbracht. In dem Arzt Dr. Riyadh, der sich als sunnitischer Kandidat zur Wahl stellte, fand sie den Protagonisten ihres Films. Sie zeigt, wie der erklärte Gegner der Okkupation und Verfechter demokratischer Strukturen in seiner Praxis tagtäglich Zeuge der physischen und psychischen Folgen der Gewalt wird, wirft einen Blick auf das Netzwerk aus US-Militär, privaten Sicherheitsfirmen, Journalisten und UN-Beamten, das im Hintergrund operiert – und liefert so auch eine Kritik der nach dem 11. September 2001 radikal gewandelten, hochproblematischen US-Außenpolitik.

Von den daraus folgenden Gängelungen der Regierung ließ sich Poitras nicht einschüchtern, sondern machte sie publik, verarbeitet sie in Kunst. In der Installation »Astro Noise« im New Yorker Whitney Museum of Modern Art reflektierte sie neben der Spionageaffäre auch, wie sie selbst zum Staatsfeind wurde. Überwachung und Überwachtwerden bleiben zwangsläufig wiederkehrendes Thema. Dabei ist Film ihr vorrangiges Medium, sie »will Kino machen«, nutzt aber auch andere Foren und Formate wie etwa bei der Videoinstallation »O'Say Can You See«, in der sie Bilder von Menschen am Ground Zero, aufgenommen zwei Wochen nach den 9/11-Anschlägen, mit einer dekonstruierten Nationalhymne unterlegte. »Terror Contagion« über Cyberwaffen und digitale Gewalt ist wiederum ein Projekt, das sie zusammen mit dem Recherchenetzwerk Forensic Architecture konzipierte; »Terror Contagion« lief als Kurzfilm zunächst 2021 in Cannes und wurde später in Museen gezeigt.

Anderes eignet sich mehr fürs Kino, wie die Geschichte der beiden jemenitischen Männer im Zentrum des Dokumentarfilms »The Oath« (2010). Da ist zum einen Abu Jandal, Ex-Mitglied von al-Qaida und Leibwächter Osama bin Ladens, der später als Taxi­fahrer Menschen durch die chaotischen Straßen der Hauptstadt des Jemens kutschiert. Und da ist zum anderen sein Schwager Salim Hamdan, der als Fahrer bin Ladens in Afghanistan gearbeitet hatte und sieben Jahre lang in Guantanamo gefangen gehalten wurde; seine Geschichte wird durch die Briefe erzählt, die er in der Haft schrieb. Ein Film über Inneneinsichten und Gewissenskonflikte, dabei journalistisch sehr präzise. 

Nach »Citizenfour« präsentierte Poitras 2016 in Cannes ein weiteres Porträt über einen Whistleblower, Julian Assange, der mit seiner auftrumpfenden Art das Gegenteil des stillen, in sich gekehrten Snowden ist. Der Film, ursprünglich »Asylum« betitelt, beleuchtet Assanges Kampf gegen staatliche Überwachung, die Motivation für sein Handeln, zeigt ihn auch in seinen Widersprüchen, aber letztlich als heldenhaften Einzelkämpfer. Nach der Premiere wurden ihm und seinem Vertrauten, dem Wikileaks-Aktivisten Jacob Appelbaum, sexuelle Übergriffe vorgeworfen, Assange selbst verstieg sich in krude Verschwörungstheorien. Desillusioniert schnitt Poitras daraufhin den Film stark um, nahm Assanges Narzissmus und die Anschuldigungen gegen ihn mit in den Fokus. Neu war an »Risk« auch ihr Offkommentar – Auszüge aus ihren Notizen während des Drehs, in denen sie mehrfach Zweifel an Assange äußert. Und sie bestätigt nun auch ein schwerwiegendes Gerücht: dass sie während der Entstehung des Films eine kurze Affäre mit Appelbaum hatte. 

Mit diesem Versuch, ihre eigene Befangenheit als Filmemacherin zu thematisieren und sich zugleich von den handelnden Personen zu distanzieren, wurde »Risk« trotz aller Schwächen zu einem faszinierenden Fallbeispiel über ethische Grundsatzfragen der dokumentarischen Form. Poitras hat sich mit den Widersprüchen, Vorwürfen und ihrer Position offen und kritisch auseinandergesetzt und so für größtmögliche Transparenz gesorgt: Umstritten ist »Risk« dennoch bis heute. Aber kontrovers sind ihre Filme ohnehin alle. Weil sie aufdecken und politisch anecken – und weil sie subjektiv und persönlich sind, allein durch ihr ungebrochenes Engagement und die Kollaboration mit den Protagonist*innen auf Augenhöhe. Nach all den Männern trifft Poitras bei »All the Beauty and the Bloodshed« nun mit Nan Goldin auf eine Künstlerin und Aktivistin, die ihr in ihrer rigorosen Haltung durchaus ähnlich ist. Das Ergebnis ist ein berührendes und vielschichtiges Porträt, ebenso cineastisch wie gesellschaftlich dringlich und relevant.

Interview

Laura Poitras über Kunst, Aktivismus und die Zusammenarbeit mit Nan Goldin

»All the Beauty and the Bloodshed« handelt vom Kampf der amerikanischen Künstlerin Nan Goldin und ihrer Aktivismusgruppe P.A.I.N. gegen die Sackler-Familie, die mit der Opioidkrise ein Vermögen verdient hat. Zugleich tauchen Sie tief in Goldins Vergangenheit und ihr Werk ein. Wie kam diese doppelte Erzählung zustande?

Laura Poitras: Mich interessieren Menschen, die sich engagieren, oft widerständige Aktivist*innen, die Veränderungen herbeiführen. Dabei ist mir wichtig, dass die Verbindung im Film organisch geschieht. Mir geht es als nonfiktionaler Filmemacherin um Austausch. Ich habe Konzepte und Arbeitsweisen, aber der Film und seine Protagonist*innen lehren mich auch und führen mich auf unerwartete Pfade. Ursprünglich war es die Sackler-Geschichte, die mich faszinierte, und dass eine kleine Gruppe dieser kriminellen Milliardärsdynastie solche Kopfschmerzen bereitet. Ich kannte natürlich Nan Goldins Werk, und mir schwebte von Anfang an ein Verweben von Vergangenheit und Gegenwart vor: ihr eigenes Leben und die Opioidkrise in Amerika; die vielen Parallelen zwischen Nans Erfahrungen und der amerikanischen Gesellschaft als Ganzem. 

Wie haben Sie Nan Goldins Vertrauen gewonnen?

Nach dem ersten Interview war ich sehr bewegt davon, wie sie über sich und ihr Leben sprach. Es hatte eine rohe Ehrlichkeit, ganz ähnlich wie ihre Bilder. Kein Bullshit, sehr persönlich und intim. Es war so einzigartig, wie sehr sie sich öffnete. Und mir war gleich bewusst, dass wir einen Schutzraum schaffen mussten, damit sie sich sicher fühlte. Dazu gehörte, dass sie alle Aufnahmen hören und sehen und ihr Veto einlegen konnte, wenn es ihr im Nachhinein zu intim war und sie es so nicht mit der Öffentlichkeit teilen wollte. Diese Struktur war essenziell.

Eine Kollaboration auf Augenhöhe?

Absolut. Es ist eine Begegnung von Künstlerin zu Künstlerin. Ich verwende für meine Filme bewusst nicht Wort wie »Biografie« oder »Subjekt«. Ich drehe Porträts über Menschen, als Teil der Gesellschaft und in einem historischen Kontext. Es ist das Ergebnis einer vertrauensvollen und intensiven Zusammenarbeit.

Wie haben Sie das Material strukturiert und die Ästhetik des Films entwickelt?

Mir gefiel das Rohe in Nans Stimme, und ich wollte es auf den ganzen Film übertragen. Deswegen habe ich mich in großen Teilen auf sie und ihre Bilder konzentriert, im Kontrast zu den turbulenten Aktivismus-Szenen, in denen ich auch Musik einsetze. Ein Wechsel zwischen großen, opernhaften Momenten und dann wieder wie ein Kammerorchester. Ihre Kunst sollte ein wichtiger Fokus des Films sein, sie ist nicht von ihrer politischen Arbeit zu trennen. Nan vertraute mir ihr Werk an, aber sie war auch sehr präzise in der Auswahl, hatte mehrfach Einwände, wenn Bild und Kommentar für sie nicht zusammenpassten. 

Sie haben mit Ihren Filmen über die Whistleblower Edward Snowden (»Citizenfour«) und Julian Assange (»Risk«) für ­Aufsehen gesorgt. Verbindet Sie mit Nan Goldin, dass Sie beide mit ihren Arbeiten Risiken eingehen?

Ich halte sie für sehr viel mutiger, als ich es bin. Vor allem auf persönlicher, emotionaler Ebene wagt sie unglaublich viel. Aber auch wie sie sich furchtlos mit dem Establishment und den Mächtigen anlegt. Das macht dieses Projekt so besonders und einzigartig in meinen Augen. Ich bin auch auf »Citizenfour« sehr stolz, aber ich kann nicht behaupten, dass ich Einblick in Snowdens Gefühlsleben bekommen hätte. Für Nan gab es keine Alternative. Sie überlebte den Verlust ihrer Community während der Aids-Pandemie in den 1980er Jahren, und als sich das massenhafte Sterben während der Opioidkrise wiederholte, musste sie etwas tun. Das war mit einem hohen Risiko verbunden. Die Sacklers sind eine extrem reiche, extrem einflussreiche Familie.

Inwiefern sehen Sie sich nicht nur als ­Beobachterin, sondern Ihren Dokumentarfilm als Teil dieses Aktivismus?

Für mich ist die dokumentarische Form Kino. Ich will Kino machen, Filme sind für mich nicht Mittel für politischen Aktivismus, auch wenn sie ein größeres Bewusstsein für ein Thema schaffen und damit politisch sein können. Genauso wie Nans Fotoarbeiten primär Kunst sind, auch wenn sie sich mit Stigma und queeren Identitäten auseinandersetzen. Und seien wir ehrlich: Kino hat seine Grenzen. Es hat nicht die Macht, einen Strukturwandel herbeizuführen. Aber Filme können Menschen erreichen. Und ich bin nicht verärgert, wenn einer meiner Filme politisch etwas bewegt.

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