Kritik zu All The Beauty And The Bloodshed

© Plaion Pictures

2022
Original-Titel: 
All The Beauty And The Bloodshed
Filmstart in Deutschland: 
25.05.2023
L: 
117 Min
FSK: 
12

Erstmals porträtiert Laura Poitras eine Künstlerin: die Fotografin Nan Goldin. Ihrem investigativen ­Erzählgestus kann die Dokumentarfilmerin jedoch treu bleiben, denn zum einen zeigt sie Goldin auch als politische Aktivistin und erforscht zum anderen deren Familiengeschichte

Bewertung: 4
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Auf Konfrontationskurs zum Establishment ging sie von Anfang an. In der traditionellen Kunstwelt war für sie kein Platz vorgesehen. Das ist keine Fotografie, empörten sich anfangs ihre Gegner, niemand fotografiert sein eigenes Leben. Dabei ist es gerade die unmittelbare Vertraulichkeit, die Nan Goldins Fotografien heute zu kostbaren Zeugnissen werden lässt.

Sie sind aus dem Leben gegriffen, in ihnen leuchtet eine Zeitgenossenschaft auf, die im Singular wie im Plural gilt. Diese Aktivistin der Sichtbarkeit gab und gibt den Außenseitern der Gesellschaft eine bildliche Identität. Vor Goldin waren queere Gemeinschaften und andere Subkulturen noch kaum ein nennenswertes Thema in der Kunst. Sie jedoch erzählte von der Revolte der Körper gegen die Konventionen. Diese Lebenswelten erkundete sie nicht mit dem Blick der Außenstehenden; sie gehört ihnen an. Brüsk, zärtlich, verstörend und immer lebhaft wirken die Bilder, die sie in ihrem selbst gewählten Zuhause erbeutet hat. »Die Fotografie gab mir einen Grund, da zu sein«, erklärt sie in Laura Poitras Film, zugleich selbstbewusst und nach Legitimation suchend.

Es ist eine faszinierende Biografie, die »All the Beauty and the Bloodshed« in zwei zeitliche Richtungen hin erzählt. Auf der einen Erzählebene zeigt Laura Poitras die politische Aktivistin Goldin, die als Galionsfigur der Vereinigung »P.A.I.N.« gegen die Sackler-Familie kämpft, die Milliarden mit dem abhängig machenden Schmerzmittel Oxycontin verdient hat. Diesen Kampf ficht sie mutig in den Institutionen aus, von denen ihre künstlerische Existenz abhängt: Sie fordert Museen und Galerien weltweit auf, sich von den mächtigen Mäzenen loszusagen, die in ihren Augen verantwortlich sind für die Opioidkrise. Poitras begleitet anteilnehmend einen Prozess, dessen Ausgang zunächst offen ist. Die Sequenz, in der Mitglieder der Sackler-Familie während einer Videokonferenz sprachlos den Aussagen von Opfern und Angehörigen zuhören müssen, verschlägt den Atem.

Die zweite Erzählebene führt zurück zu Goldins Herkunft, in die erstickende Enge einer Vorstadt. Ihre Kindheit wurde geprägt von der angeblichen Geisteskrankeit ihrer älteren Schwester Barbara, die sich mit 18 Jahren vor einen Zug warf. Aus dieser Welt, in der jede unliebsame Wahrheit unter den Teppich gekehrt wurde, floh sie zunächst in die Subkultur von Boston, dann New York. Goldins fotografische Plädoyers für sexuelle Selbstbestimmung, darauf beharrt der Film, sind insgeheim auch im Namen ihrer Schwester entstanden. Der Filmtitel geht auf sie zurück.

Poitras porträtiert eine vielfach Überlebende, die eine bewunderswerte Gabe besitzt, Gemeinschaften zu finden und selbst zu begünden. Zwischen Leben und Kunst muss der Film nicht trennen, er setzt sich den unverstellten Zeit- und Selbstzeugnissen ihrer Bilder aus. Der Blick auf die Künstlerin wird nicht gefiltert durch die Aussagen von Kritikern oder Kuratoren, die erklären, weshalb sie bedeutsam ist. Die auftretenden Talking Heads sind vielmehr Fachleute für Goldins Leben und ihre Kämpfe; Freundinnen, Weggefährtinnen und Mitstreiterinnen werden als Zeugen aufgerufen, die eigene Konturen gewinnen. Diese vielstimmige Hommage ist familiär in Goldins Sinne, aber keineswegs distanzlos.

Eine überzeugende Engführung von Intimität und Geschichtsschreibung gelingt Poitras zudem dank einer weiteren, un­gemein ertragreichen Erzählstrategie, die darin besteht, dass sie Goldin während ihrer Interviews nicht gefilmt hat, sondern sie in Tonaufnahmen zu Wort kommen lässt. Das verleiht ihrer Montage einerseits eine größere Agilität und ermutigte die Interviewte womöglich zu größerer Offenheit. Goldins sonore, lebensraue Stimme aus dem Off besitzt Autorität; sie kann eine nüchterne, scharfe, aber auch selbstironische Kommentatorin sein. »Ich war mein Leben lang eine ziemlich gute Ladendiebin«, gehört zu den erfreulichen Bekenntnissen, die der Film bereithält. Er ist ein Manifest leidenschaftlicher, wachsamer Unkonventionalität und zugleich eine intrigierende Spurensuche nach den Beweggründen von Kunst.

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