Nahaufnahme von Song Kang-ho
Song Kang-ho in »Broker« (2021). © Zip Cinema & Cj Enm CO., Ltd.
Er beherrscht diesen erstaunlichen Sprung, den man in koreanischen Genrefilmen des Öfteren zu sehen bekommt. Der Angreifer läuft los, springt mit beiden Beinen in die Höhe und tritt seitlich ausschlagend in den Gegner hinein. Meist gehen bei diesem Manöver beide Beteiligte zu Boden, womit der Angreifer zugleich auch seinen Vorteil aufgibt. Das liegt in der Natur der Sache beziehungsweise der Art des Angriffs, der eigentlich immer aus einer großen Wut heraus erfolgt; nicht selten braucht es dann einen Haufen Leute, die die Kontrahenten unter Geschrei und mit viel Hin- und Hergewoge auseinanderdividieren.
Im Unterschied zum verbreiteten Klischee allgemeiner asiatischer Gelassenheit wird den Koreaner*innen (auch von den Nachbarn) ein eher heißblütiges Temperament nachgesagt. Tatsächlich ist es nicht zu leugnen, dass in einer Soju-Kneipe die Aschenbecher schon mal tief fliegen können, darin den Masskrügen in bayrischen Bierzelten nicht unähnlich. Die Rede soll hier jedoch nicht von den globalen Gefahren des Wirtshausbesuches sein, sondern von Song Kang-ho, dessen Figuren im Zweifelsfalle früher oder später mitten ins Getümmel springen. Gemeinhin geschieht dies keineswegs unprovoziert, aber die Lunte ist halt ziemlich kurz, siehe oben.
In seiner Heimat ist Song Kang-ho ein vielbeschäftigter und hochgeschätzter Starschauspieler. Einem breiteren, westlichen Publikum dürfte er spätestens seit seiner denkwürdigen Verkörperung des eher notgedrungen optimistischen Familienvaters in Bong Joon-hos Arthouse-Hit »Parasite« bekannt sein – 2019 Gewinner der Goldenen Palme bei den Filmfestspielen in Cannes sowie 2020 mit vier Oscars ausgezeichnet, darunter dem für den besten Film, als erster fremdsprachiger Film überhaupt. Im vergangenen Jahr hat Song Kang-ho nachgelegt, als er, neuerlich in Cannes, für seinen illegale Adoptionen vermittelnden Wäschereibesitzer in Hirokazu Kore-edas »Broker« den Preis als bester Schauspieler erhielt.
Interessierte am koreanischen Kino kennen den nicht nur aufgrund seiner 1,80 m Körpergröße überragenden Mimen freilich schon viel länger. Findet sich doch sein Name wiederkehrend in den Besetzungslisten der auf internationalen Festivals mit ihren Arbeiten reüssierenden südkoreanischen Filmemacher; neben Bong Joon-ho seien hier Kim Je-woon und Park Chan-wook genannt. Mit dem Autoren(viel)filmer Hong Sang-soo – in dessen erstem Film »The Day a Pig Fell Into the Well« (1996) er, wenngleich nur kurz, erstmals vor eine Kamera trat – teilt er sich sogar den Debüt-Credit.
Im Jahr darauf übernimmt er eine kleine Rolle im vielbeachteten Debüt »Green Fish« von Lee Chang-dong (zuletzt 2018 mit »Burning« international erfolgreich), in dessen scharfkantigem Melodram »Secret Sunshine« (2007) er gut zehn Jahre später eine der Hauptrollen innehaben wird. Gleichfalls 1997 spielt er eine Nebenfigur in der Gangsterkomödie »No. 3« von Song Neung-han, die ihm eine Auszeichnung als bester Newcomer einbringt. Er bestätigt die in ihn gesetzten Hoffnungen im nächsten Jahr als Teil der notgedrungen mörderischen »Quiet Family«, die Kim Je-woons schwarzer Horrorkomödie den Titel gibt. Danach geht es Schlag auf Schlag: Er spielt einen nordkoreanischen Sergeanten auf Abwegen in Park Chan-wooks Blockbuster »Joint Security Area« (2000), den Vater des Entführungsopfers in »Sympathy for Mr. Vengeance«, mit dem Park Chan-wook 2002 seine »Rache-Trilogie« eröffnet, und etabliert sich spätestens mit dem an seine Grenzen getriebenen Provinzpolizisten in Bong Joon-hos Neo-Noir »Memories of Murder« (2003) als einer der besten Schauspieler seiner Generation.
Und als wäre das auch seine Bestimmung, bleiben Song Kang-ho im Laufe seines Werdegangs die Mühen der Ebene erspart; kein endloses Getingel durch die Provinz, keine Mini-Rollen in unbedeutenden Fernsehserien, keine von Box-Office-Bomben verursachten Durchhänger. Stattdessen kontinuierliches Arbeiten auf hohem Niveau. Wobei natürlich auch Song Kang-ho mal klein angefangen hat. Geboren am 17. Januar 1967 in der Provinzhauptstadt Gimhae im Südosten Südkoreas erkennt er die Schauspielerei bereits während der Schulzeit als seine Berufung und lässt nicht locker. Er absolviert auch keine reguläre Ausbildung, sondern geht im Alter von 23 Jahren nach Seoul und erprobt sein Naturtalent in der Praxis bei verschiedenen Theatern und in freien Gruppen. Er ist fast 30, als er von den Brettern, die die Welt bedeuten, vor die Kamera wechselt. Zum Glück. Denn die Nähe, die dieser Apparat ermöglicht, kommt den minimalistischen Mitteln entgegen, die Song Kang-ho außergewöhnlich virtuos zu handhaben weiß.
Ein Beispiel: Kim Ki-taek, Oberhaupt der recht armen Familie Kim, die sich in »Parasite« ins Vertrauen der sehr reichen Familie Park einschleicht – nicht eigentlich mit böser Absicht, sondern um dort als Hausangestellte ein Auskommen zu finden. Eine Verkettung unglücklicher Umstände führt nun dazu, dass Herr Kim, gemeinsam mit seinen beiden Kindern unter dem Wohnzimmertisch versteckt liegend, mitanhören muss, wie Herr Park seinen schlechten Geruch konstatiert: Er rieche wie das Auskochen alter Lumpen. Herr Kim schließt die Augen. Mehr macht Song Kang-ho nicht in dieser Szene, allenfalls drückt er die Lider etwas fester zu, es kann aber auch sein, dass man sich das einbildet. Was man sich allerdings keineswegs einbildet, ist die tiefe Demütigung, die Herr Kim in diesem Moment durch Herrn Park erleidet. Was man sich auch nicht einbildet, ist das ohrenbetäubende, dabei doch unhörbar bleibendes Krachen, mit dem hier der erste Stein aus dem charakterlichen Fundament dieser eigentlich zuversichtlich gezeichneten Figur bricht. Weitere werden folgen, bis zum bitteren, dann zwangsläufigen Zusammenbruch und mörderischen Ende.
Es ist Song Kang-hos spezifische Gabe, seine Figuren bodenständig, nahbar, kurz: menschlich selbst dann noch zu zeichnen, wenn sie eigentlich eher Genre-Chiffren nahelegen: wie der ehemalige Geheimagent in Jang Hoons wendungsreichem Spionagethriller »Secret Reunion« (2010), der desillusionierte Cop in Yoo Has wild fabuliertem »Krimi Howling« (2012); oder der durchgedrehte Drogenbaron in Woo Min-hos Gangster-Epos »The Drug King« (2018).
So fantastisch und grotesk auch die Umstände, die die Filme für die Figuren bereithalten, Song Kang-ho stellt einen Mann mit normalgroßen Gedanken und Gefühlen aus unserer Mitte in sie hinein. Einen, der wie alle anderen auch im Grunde nur auf der Suche ist nach einem Platz auf der Welt, an dem es sich einigermaßen zufrieden und unbehelligt vom missgünstigen Nachbarn (über)leben lässt. Und er meint es bestimmt nicht böse, erst recht nicht, wenn ihm der Geduldsfaden reißt und die Lunte brennt; er ist eben ein gewöhnlicher und das heißt halt auch schwacher Mann, der jedoch immerhin selbst in außergewöhnlichen Umständen noch sein Bestes zu geben versucht. Song Kang-ho präsentiert ihn uns als Angebot zur Identifikation wie Ansuchen um Empathie gleichermaßen. Hartherzig wären wir und kurzsichtig, würden wir nicht annehmen und nachkommen.
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