Rollback oder Verschnaufpause?
Die Bekanntgabe der Nominierungen für den französischen Filmpreis César hielt einige Überraschungen bereit. Sie fangen bei den unerwarteten Favoriten an. Louis Garrels Einbruchskomödie »L'innocent« Louis Garrel steht mit elf Nominierungen an erster Stelle, an zweiter liegt mit zehn Dominik Molls exzellenter Polizeifilm »In der Nacht des 12.« (halten Sie sich 'ran, bevor er aus unseren Kinos verschwindet!). Bemerkenswerter ist jedoch diese Frage: Wo sind die Regisseurinnen geblieben?
Keine einzige Frau ist in dieser Kategorie nominiert,das hat es seit 2015 nicht mehr gegeben. Die Männer (neben den oben genannten sind das Cédric Jimenez, Cédric Klapisch und Albert Serra) machen das Rennen unter sich aus. Zudem wurden Filme von Regisseurinnen auch in den anderen Kategorien nicht gerade überhäuft. »Les Amandiers« erhielt sieben Nominierungen, »Saint Omer« nur vier. Von den weiteren Filmemacherinnen, auf die ich im Eintrag "Das halbe Gesicht" vom 4. Oktober die Hoffnung setzte, sie könnten das Herbstgeschäft und die Filmpreisebeleben, fehlt jede Spur. Mia Hansen-Love (»An einem schönen Morgen«) rutschte unter dem Radar der Filmakademie ebenso durch wie Rebecca Zlotkowski (»Les enfants des autres«). Das schmerzt mich besonders, denn unter anderen Umständen hätte diese wunderbare Komödie und hätten ihre einnehmenden Hauptdarsteller bestimmt Chancen gehabt. Insgesamt sind Filmemacherinnen in einem Maße unterrepräsentiert, das bei dieser Kinematografie verblüffen muss. In der Sparte Dokumentarfilm treten nur anderthalb an, allerdings mit starken, eindringlich intimen Familienporträts: Annie Ernaux als Co-Regisseurin von »Die Super-8-Jahre« und Charlotte Gainsbourg mit »Jane by Charlotte«. Von den fünf Erstlingsfilmen wiederum wurden nur zwei von Frauen inszeniert.
Auf dem Feld der Nominierungen für den Oscar und Bafta sieht es noch mal anders aus. Das wundersame Abschneiden von »Im Westen nichts Neues« (neun respektive vierzehn Nennungen) lasse ich einmal außen vor, das ist ein anderes Thema. Über die Oscars muss man sich eventuell nicht so sehr wundern – diskursmüde Mitglieder der Academy sagten sich vielleicht, nach »Nomadland« und »The Power of the Dog« sei erstmal genug mit den Triumphen des weiblichen Blicks. Beim britischen Filmpreis zeigt sich ein komplizierteres Bild. In der Kategorie Beste Regie findet sich immerhin eine Regisseurin: Gina Prince-Bythewood für »The Woman King«, in der Sparte "Outstanding British Film" ist unter anderem Charlotte Wells mit »Aftersun« vertreten. Zudem gibt es eine interessante Mischkategorie, "Outstanding debut by a british writer, director or producer", in der sämtliche fünf Nominierungen an Frauen gingen. Mithin lassen sich diese drei Vorausscheidungen nicht über einen Kamm scheren.
Bei den Oscars und den César vermute ich jedoch eine vergleichbare Politik. Mit Ausnahme von Edward Bergers Netflix-Produktion sind die Steamingplattformen in diesem Jahr ins Hintertreffen geraten. Die Vorauswahl der Academy spiegelt explizit ein Wiedererstarken der klassischen Studios bzw. unabhängigen Produktionsfirmen wider. Sie hebt eben auch Blockbuster wie »Avatar: The Way of Water« und »Top Gun: Maverick« hervor. Ebenso die französische Filmakademie: Sie will Filme feiern, die das Publikum zurück ins Kino gebracht haben. Die zwei Favoriten verbuchten beachtliche Kassenerfolge (700000 bzw. 50000 verkaufte Eintrittskarten); mit den sieben Nennungen für Jimenez' »November« würdigt die Akademie einen veritablen heimischen Blockbuster.
Dass »Simone – Le Voyage du Siècle« nur zwei Nominierungen erhielt, passt nicht ganz in dieses Bild. Warum konnte der Film sein robustes Einspielergebnis nicht in akademische Ehren umwandeln? Immerhin verhandelt er die politisch wie zeitgeschichtlich einzigartige Biographie Simone Veils; Elsa Zylberstein in der Hauptrolle wurde rätselhaft übergangen. Aber an einen ausgemachten konservativen Rollback mag ich noch nicht recht glauben. Schließlich gehört es zu den Besonderheiten des César, dass selbst eine rekordverdächtige Anzahl von Nominierungen noch keine Garantie für eine Trophäe ist. Es ist also durchaus denkbar (und gar nicht mal unwahrscheinlich), dass Alice Diops »Saint Omer« am Ende mehr Preise gewinnt als Klapisch' »Das Leben ein Tanz«, der neun Nominierungen erhielt. Das Rennen ist offen – ein wenig.
Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns