Kritik zu Petrov's Flu – Petrow hat Fieber
Grüße aus der Kälte: Bevor der russische Theater-, Film- und Opernregisseur Kirill Serebrennikov nach Kriegsbeginn endgültig ins Exil ging, realisierte er in Russland noch diese furiose Adaption eines zeitgenössischen Romans
Stimmengewirr im überfüllten Linienbus. Ein neunjähriges Mädchen räumt artig den Sitzplatz für einen älteren Herren. In Afghanistan, sagt er ihr, wäre sie schon seit zwei Jahren verheiratet. Womöglich hätte sie ihren Mann sogar schon betrogen. Der misogyne Herr bekommt mächtig eins auf die Zwölf. Doch davon bekommt Petrov (Semyon Serzin) kaum etwas mit. Eine schwere Grippe hat sein Hirn in Watte gepackt. In Fiebertrance, die mit Wodka noch angeheizt wird, stolpert er umher. Zunächst gerät er als Todesschütze in eine Exekution Unschuldiger. Dann sitzt er mit Trinkkumpan Igor in einem Leichenwagen. Schließlich liegt er selbst im Sarg. War er nicht vorher längst schon ein lebender Toter?
Kirill Serebrennikov hat »Petrow hat Fieber«, den »Gripperoman« von Alexey Salnikov, adaptiert. Eigentlich wurde der regimekritische Regisseur von der korrupten Justiz aufgrund dubioser Vorwürfe zu Hausarrest verurteilt. Theateraufführungen in Deutschland inszenierte er via Zoom. Vor seiner endgültigen Flucht ins Berliner Exil realisierte er diesen furiosen Film.
Die bildgewaltige Rahmenerzählung gliedert sich in mehrere assoziative Stränge, die mit einer fantasievollen Bildsprache ineinander greifen. Petrov lebt kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im zentralrussischen Jekaterinburg, dem einstigen Swerdlowsk. Seine Frau Petrova (Chulpan Khamatova) ist Bibliothekarin. Gelegentlich verwandelt sie sich in eine schwarzäugige Furie, die ihrem Sohn die Kehle durchschneidet. Allerdings nur in der Fantasie.
Mit postmoderner Beliebigkeit hat dieser Verschränkung von Realität und Einbildung allerdings nichts zu tun. Dafür ist die nervöse Handkamera, die sich durch düstere Plattenbauwohnungen mit flackerndem Licht bewegt, zu dicht am russischen Alltag. Jede der zahlreichen Figuren erzählt eine eigene Geschichte. Ein Außenstehender kann den überbordenden Anspielungsreichtum dieses filmischen Juwels oft nur erahnen.
Der assoziativ montierte Bilderstrom, der Schwarz-Weiß und Farbe, Theater und Comic sowie Vergangenheit und Gegenwart virtuos verwebt, kulminiert in der wiederkehrenden Szene einer Silvesterfeier. Marina (Yuliya Peresild) verkörpert hier die folkloristische Figur der Snegurotschka, eine Eisjungfrau, die als Tochter von »Väterchen Frost« gilt. Soll sie das Kind in ihrem Bauch abtreiben oder nicht? Ihre Entscheidung – so spürt man als Zuschauer, der allmählich auch Schüttelfrost bekommt – hängt in einem lose geflochtenen Assoziationsfaden damit zusammen, dass Petrov am Ende als Scheintoter aus dem Sarg steigt. Wiedergeboren aus der Kälte.
Gewiss, der Film metaphorisiert den maroden russischen Alltag als taumelnden Fiebertraum. Und ja, eine Anspielung auf die Pandemie ist das auch. Aber einer »Botschaft« im Sinne einer »Gesellschaftskritik« versperrt sich dieser atemlose Geniestreich. »Petrov's Flu« ist ein zweieinhalbstündiger cineastischer Kraftakt, der die (post-)sozialistische Tristesse als Endlosschleife durchspielt. Ein Film wie eine Grippe. Das Zusehen wirkt ansteckend.
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