Kritik zu Mehr denn je
Ein Film über den letzten Abschnitt des Lebens: Mit feinem Gespür begleitet Emily Atef in ihrem neuen Werk eine von Vicky Krieps gespielte junge Frau in einer existenziellen Phase. Gaspard Ulliel spielt als ihr Freund eine seiner letzten Rollen
»Wann wirst du wieder arbeiten?«, fragen die Freunde und treffen Hélène mitten in ihr haderndes Herz und ihre fragile Psyche. Abrupt steht sie auf und verlässt den Tisch, die Wohnung, in der sie keine Erdung mehr hat, ihr Freund Matthieu eilt hinterher. Eigentlich wollte Hélène gar nicht mitkommen zu diesem Essen mit Freunden aus der Zeit vor der Diagnose, aus Angst vor der tödlichen Mischung aus Mitleid und Hilflosigkeit. Es ist, als hätte sie sich längst meilenweit entfernt vom Alltag ihrer Freunde – und von der einst großen Nähe zu ihrem Freund. Mit nur 33 Jahren leidet sie an einer seltenen, tödlich verlaufenden Lungenkrankheit. Während ihre Freunde ihre Leben planen, muss sie einen Weg finden, ihres abzuschließen.
Keinen Film über den Tod und das Sterben habe sie machen wollen, sagt Emily Atef, sondern einen Film über den letzten Abschnitt des Lebens. Mit feinem Gespür begleitet sie diese junge Frau in einer existenziellen Phase ihres Lebens, so wie sie das zuvor schon mit den anderen Heldinnen ihrer Filme getan hat, in »3 Tage in Quiberon« mit der am Leben zerbrechenden Romy Schneider, in »Töte mich« mit einem suizidalen Teenager, in »Das Fremde in mir« mit einer Mutter, die mit postnatalen Depressionen ringt. In ihren schwächsten Momenten eröffnet die Autorenregisseurin all diesen Frauen einen Weg zu innerer Stärke.
Abschied und Trauer, gerade gibt es besonders viele Filme, die sich damit beschäftigen, den eigenen Tod, den eines Liebsten zu verarbeiten. In »Mehr denn je« führt der Weg von Hélène (Vicky Krieps in einer ihrer intensivsten Rollen) nicht ins Dunkle und in den Stillstand, sondern ans Licht, ins Freie, in die Natur und die Bewegung.
Während sie sich von Freunden und Familie mit ihren Lebenserwartungen entfernt, findet Hélène im Netz eine verwandte Seele, den Blogger, der unter dem Pseudonym Mister ebenfalls mit einer tödlichen Krankheit ringt. Seine Einträge berühren sie mehr als die Fürsorge ihrer Freunde und die Forderungen ihres Freundes, auf die Chance eines medizinischen Eingriffs mit unsicherer Erfolgschance zu setzen. »Die Lebenden und die Sterbenden haben einander nichts zu sagen«, erklärt Mister, der schon mehr Erfahrung mit der Auseinandersetzung mit Krankheit und Sterben hat als sie. Plötzlich weiß sie, das ist ihr Weg, sie muss allein mit ihrem Sauerstoffgerät zu Mister und in die abgelegene, kristallklare Schönheit der norwegischen Fjorde.
Schon zu Hause fand sie in der schweren Zeit schwerelose Momente des Schwebens unter Wasser, Momente, die Emily Atef ganz ohne Sentimentalität mit poetischer Kraft versetzt. Zusätzliche Intensität bekommt der Film durch das Wissen, dass es der letzte Film mit Gaspar Ulliel ist, der kurz nach den Dreharbeiten nur 37-jährig bei einem Skiunglück starb. Wenn er am Ende des Films seiner Freundin das Geschenk macht, ihren Wunsch gegen seine Interessen zu respektieren, dann steht er auf dem Deck des Schiffes, das sich mit ihm langsam entfernt. Das Bild ist nicht nur Ende des Films sondern auch Ende seines Lebens.
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