Buch-Tipp: Zum 90. Geburtstag von Edgar Reitz

Berufen, zu erzählen

Wenn jemand Filmgeschichte schreibt mit einem Werk von epischen Ausmaßen, darf man von seinen publizierten »Erinnerungen« vermutlich kein schmales Bändchen erwarten. In der Tat, begnügte sich Werner Herzog jüngst mit 350 Seiten, so füllt der sieben Jahre ältere Edgar Reitz fast das Doppelte. Seine Erzählung, gegliedert in elf Teile und 127 Kapitel, ist streng chronologisch angelegt, vom Umzug der Familie 1935 (dem Geburtsjahr von Reitz) bis zu dem, was in der Gegenwart seine Gedanken beeinflusst, darunter der Krieg in der Ukraine.

Natürlich nimmt seine Heimat-Reihe großen Raum ein, aber sie dominiert das Buch glücklicherweise nicht, auch wenn Reitz anlässlich seines ersten abendfüllenden Films »Mahlzeiten« (1966) und der daneben entstandenen ›Fußnoten‹ zum Film schon seine epische Bestimmung spürt, und wenn er bei seinen Jahren in München und Ulm immer wieder einfügt, was er davon in veränderter Form in Die zweite Heimat einfließen ließ. Er sei »fast 30 Jahre lang im Geschichtenkosmos der Heimat gefangen gewesen«, resümiert er gleich auf den ersten Seiten und schreibt später: »Mein eigener Film steht mir im Wege. Ich versuche, mich in die Zeit des Studienbeginns in München zu versetzen, und sehe, dass die fiktiven Bilder der »Zweiten Heimat« deutlicher vor meinen Augen erscheinen als die Wahrheit.« Aus der Kleinstadt im Hunsrück, wo sein Vater ein Geschäft als Uhrmacher betreibt, er 1938 als Weihnachtsgeschenk einen Filmprojektor bekommt und seine Freunde und Mitschüler bei ›Garagenkino-Vorführungen‹ mit aus Filmresten des örtlichen Kinos selbst montierten Kurzfilmen unterhält, führt ihn der Weg zum Studium nach München. Dort verdient er in den 50er Jahren Geld beim Botendienst des Bayerischen Rundfunks, wird aber auch Teil der Boheme und mit 23 Jahren Vater.

Es dauert eine Zeit lang, bis – nach Literatur und Theater – der Film sich »seiner Fantasie bemächtigt«. Er lernt das Handwerk als Assistent von Willy Zielke (»mein eigentlicher Lehrmeister«) bei dessen letztem Film »Aluminium« und arbeitet danach selbst jahrelang als Autor und Regisseur von Industriefilmen – bei einem Engagement für die Deutsche Bahn kreiert er den legendären Werbespruch »Alle reden vom Wetter. Wir nicht. Die Bahn« (was ihm jahrelang eine Netzkarte 1. Klasse einbringt). Er stößt zur Gruppe DOC 59, die sich wöchentlich im Chinarestaurant »Hong Kong« trifft und zur »Brutstätte der Oberhausener Bewegung« wird. Die Verkündung des Oberhausener Manifests 1962 wird von ihm eher knapp abgehandelt; er räumt ein, dass ihm die damalige Vorführung seines Films »Yucatan« im Wettbewerb des Festivals wichtiger war.

Der junge deutsche Film tut sich mit seinem Aufbruch eher schwer, bei einem Treffen mit Mitgliedern der »Gruppe 47« konstatiert Reitz, »die Schriftsteller wollten ihre literarischen Werke verfilmt sehen, die Filmemacher hofften, die Verfilmungsrechte der erfolgreichen Romane der Gruppenmitglieder zu Sonderkonditionen ergattern zu können«. Er führt die Kamera bei »Abschied von Gestern«, dem Langfilmdebüt des (regieunerfahrenen) Alexander Kluge; sein eigenes Spielfilmdebüt Mahlzeiten wird ein Jahr nach Kluges Werk ebenfalls in Venedig ausgezeichnet, als bestes Erstlingswerk.

Mit Kluge ist er an der Ulmer Hochschule für Gestaltung aktiv. Er ist Co-Regisseur bei »In Gefahr und höchster Not bringt der Mittelweg den Tod«, der »bis heute als Werk von Kluge gilt«, weshalb Reitz bei »Der starke Ferdinand« alleiniger Regisseur sein möchte, was Kluge anfangs akzeptiert, dann aber auf eine Co-Regie drängt, was am Ende dazu führt, dass Reitz den Film ganz an ihn abgibt. Querelen gibt es auch mit dem WDR, wo man mit den Quoten der »Zweiten Heimat« unzufrieden ist. Misserfolge führen zu Krisen, Reitz berichtet auch von Trennungen von Frauen und von Abschieden von Freunden (wie etwa Alf Brustellin) – und kommt immer wieder auf das Erinnern selbst zurück. Ein Buch, dessen Lektüre alles andere als verschwendete Zeit ist, ein Buch, das man mit Gewinn liest.

 


Edgar Reitz: Filmzeit, Lebenszeit. Erinnerungen. Rowohlt, Berlin 2022, 672 S., 30 €.

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