Nachruf: Jean-Luc Godard
Jean-Luc Godard
Die fröhliche Bildwissenschaft
Jeder neue Film von Jean-Luc Godard hat uns vor Augen geführt, welch absurdes Unterfangen Filmkritik eigentlich sein kann. Nicht nur, weil Godards Filme immer schon gerade dort waren, wohin man mit Texten noch nicht (oder nie) gelangen konnte, sondern auch, weil seine Filme ja immer schon selbst Kritik waren. Kritik des Films, Kritik des Bildes, Kritik der Worte, des Sehens, Hörens, Lebens. In vielen Filmen von Godard passiert etwas, das wie eine Loslösung erscheint, als würde ein Film sich irgendwann vom Wollen derer, die ihn machen, lösen, sich wie ein unruhiger Fluss den eigenen Weg suchen und nicht nur überraschende Wendungen, sondern auch Staus, Inseln, Schnellen erleben und umgekehrt die »machen«, die ihn produzieren und vielleicht auch die, die ihn sehen. Ein Film by Godard oder ein Godard by Film. Godard jedenfalls ist der Name für eine Sphäre, in der sich Bilder, Worte und Klänge auf eine neue Weise organisieren.
Dauernd kommen in diesem Fluss Partikel zum Vorschein, die man wiedererkennt. Das war schon bei »Außer Atem« so: Belmondo, der eine Geste von Humphrey Bogart zitiert. Man konnte das einfach toll und bedeutsam finden (zumal es das Cineastische von Leben und Politik in dieser Zeit zu betreffen schien). Aber ehrlich gesagt bedeutet es für sich: gar nichts. Es ist ein Spiel, das Assoziationen möglich macht jenseits der vorgegebenen Bahnen solcher Assoziationsspiele: Parodie, Hommage, Zitat, Variation? Nein. Eine Form der Aneignung. Die wiederum konnte man ins eigene Leben einbauen, man konnte also gegen Ende der 60er »godardistisch« leben. Sich bewegen wie auf einer Kinoleinwand und im Kino leben, das folgerichtig im Mai 1968 zur Keimzelle der Revolte wurde.
Ein bisschen verhalten sich solche Elemente – damals noch einigermaßen fixierbar – wie die Nase bei Gogol. Sie machen sich selbstständig, treten ziemlich unverschämt auf und stürzen andere in Irritation. Aber damals war diese Vorgehensweise genau richtig. Jemand betrat den Raum des Kinos, um darin Unruhe zu stiften. Und jemand konnte darin »hellsehen«. Es gibt ein paar Filme Godards aus diesen Jahren, die wirken, als hätten sie schon alles kommen sehen, »La Chinoise«, »Weekend«, »Les Carabiniers«, »Le Petit Soldat«, »Deux ou trois choses que je sais d’elle«. Und es gibt andere, die mit dem Kino spielten, oder genauer gegen es: »Le mépris, Alphaville«, »Pierrot le fou«. Godards Filme waren zugleich Appelle zum Aufstand und Kassandra-Visionen seines Scheiterns.
Ein lebender Widerspruch. Das nennt man Kunst. Präsident Macron würdigte Godard für den »Blick des Genies«. Wohl wahr: Er hat das Kino mit dem Blick eines »Kubisten« gesehen, und später die unterschiedlichsten Kunsttechniken auf das Bewegungsbild angewandt. Aber zugleich musste Godard, der Filme politisch machen wollte, dem Blick des Genies misstrauen. Nie konnte er in seinen Filmen so zu Hause sein wie Federico Fellini, nie konnte er in ihnen die eigene Seele erforschen wie Ingmar Bergman. Seine Bilder konnten nichts anderes, als eine permanente Revolution ausrufen. Auch gegen sich selbst.
So richtig funktioniert hat Godard im Kulturbetrieb nur zu der Zeit, da er selbst gleichsam den Status eines Popstars hatte, von anderen Kulturhelden und Popstars beschrieben und bewundert. Wie Andy Warhol, Che Guevara oder Susan Sontag, Robert Crumb, David Bowie oder Kraftwerk. Godard war so sehr ein richtiger Mensch am richtigen Ort zur richtigen Zeit, dass man nur glauben kann, mit dem Genie in die Zukunft zu schauen. Godard machte nicht Kino, er war Kino, so wie Andy Warhol Pop Art war, David Bowie Metamorphose, Susan Sontag (die Godard zu integrieren wusste) feminine, urbane Intellektualität.
Das alles war sehr ausgeprägt in den Jahren zwischen 1960 und 1968, dann wurde seine Arbeit zusammen mit Jean-Pierre Gorin als »Gruppe Dziga Vertow« zugleich politisch und, was die Semiotik anbelangt, transzendental – oder eben revolutionär. Es kommt auf den Standpunkt an: Es war irgendwann klar, dass das meiste von Godard in diesem Sinne transzendent bleiben musste, weil es keinen Umsturz brachte, allenfalls Erschütterung. Die Film- und Bild-Codes sind heute fester denn je, und sie sind tiefer in der Reaktion befangen als zu der Zeit, da er mit dem Filmen begann. So wurde Godard zum Meister einer ästhetischen Revolution, die niemals stattgefunden hat. Eben das war das Leitmotiv seiner zweiten Entdeckung als Künstler. Einer, der nicht unbedingt mehr vornweg ist, sondern eher anderswo. In den 80ern ging man mit Godard nicht mehr auf die Straße, sondern in einen Kunstraum. Hier konnte man alles infrage stellen, sogar seinen christlichen Unglauben oder seinen unchristlichen Glauben. Da war durchaus Erleuchtung und wie es sich gehört: schwer in Worte zu fassen.
Ein lebendes Museum der alternativen Visualität: Manchmal tauchte dieser Pop-Star namens Godard unvermittelt aus seinen transzendenten Bildwelten wieder auf, war plötzlich wieder zu diskutieren und zu goutieren. »Prénom Carmen«, »Détective«, »Je vous salue«, »Marie« oder »Nouvelle Vague« waren (beinahe) wieder richtige Kinokunst. Auch mit den »Histoire(s) du Cinéma« tauchte Godard noch einmal aus seiner Ein- oder Zweisiedelei auf und erreichte Seitenarme der cineastischen Ströme. Aber er war längst ein Geist des Kinos geworden, ein Spuk. Der bockige »Anti-Zionismus«, der mit jeder seiner Rechtfertigungen und Variationen schlimmer wurde, schloss Godard aus dem politischen Diskurs weitgehend aus. Hier wurden auch seine »Frage-Montagen« desolat, hier wurde klar, dass Godard niemand war, der irgendwen oder irgendwas irgendwohin führen konnte.
Der Fluss der Bilder, den uns Jean-Luc Godard neu entdecken ließ, der hat seine Tücken, seine Untiefen, seine Strudel, seine toten Seitenarme. Godards Filme sind keine »Kunstwerke« (was nicht heißt, dass man einige von ihnen nicht durchaus so behandeln kann; gleichsam eingerahmt und mit Unterschrift versehen), sondern eher Ausbrüche. Sie verhalten sich wie die Bande àpart, an die Stelle des auratischen Bildes (der harmonischen Montage, der idealen continuity) tritt die Frage, was man damit anstellen kann. Und das führt zu dem kuriosen Empfinden, dass Godards Filme leben. Sie sind nicht hergestellt, sie sind frei gelassen. Sie führen sich auf, dass es jeder seriösen Filmkritik spottet. Entsprechend gibt es etliche Texte, die regelrecht beleidigt erscheinen und dem Filmemacher Prätention, Scharlatanerie, Willkür vorwerfen. Aber Godard wollte ja nie ein Meister werden, er war immer ein Zauberlehrling, der die Kräfte des Kinos entfesselte, ohne sich um Vorgaben und Verbote zu scheren. Man kann immer benennen, wogegen seine Filme sich wenden. Das Wofür bleibt eher vage. Aber einer, der freilässt, ist deswegen noch kein Zerstörer; wir müssen uns Jean-Luc Godard als fröhlichen Filmemacher (oder fröhlichen Bildwissenschaftler) denken. Und dann ist seine gai savoir (du cinéma) auch wieder sehr ernst, so verzweifelt, wie es nur ein vergrabener Calvinist sein kann (als »Schweizer Calvinisten« beschimpften ihn französische Wandmaler einmal).
Kaum ein Film von Godard lässt sich auf eine Weise beschreiben wie Drehbuch, Realisation, Postproduktion, vielmehr geschieht da immer etwas im Produktionsprozess selber. Das wirkt sich auch auf das Schreiben über JLG aus. Man kann schweigen, man kann endlos reden, man kann, wie es Bert Rebhandel in seiner grandiosen Godard-Monografie gemacht hat, doch noch Ordnungen, Linien, Wellen und Diskurse etablieren. Und doch liegt JLGs frohe Botschaft an unser Metier auch darin: dass man anders, freier über Film sprechen und schreiben kann, wo es andere, freiere Filme gibt.
Dass dieser Mensch uns mit einem weiteren unlösbaren Rätsel hinterlassen würde, einem assistierten Suizid, der nicht auf eine Krankheit, sondern, wie die Angehörigen mitteilen, auf Erschöpfung zurückgeht, ist konsequent. Der zweite Teil der Botschaft ist bedeutend: Godard, heißt es, wollte, dass man das weiß. Die intimste Entscheidung, die über das eigene Leben, den eigenen Tod, ist für ihn auch die öffentlichste. Jean-Luc Godard hat auch seinen Tod politisch gemacht.
Kommentare
Amsterdam Godard
Zu „Amsterdam“: Endlich eine wahrhaftige Kritik über einen guten Tegisseur und einen misslungenen Film. Ich wundere mich über die Lobhudeleien in der SZ und der FAZ.
Zu Godard: Auch dieser Artikel ist sehr differenziert und wird ihm und seiner Bedeutung ebenso wie seinen Verirrungen in jeder Hinsicht gerecht. Danke.
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