Kritik zu Quellen des Lebens

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Die seltsam wunderbare Realität der Erinnerung: Oskar Roehler präsentiert seine eigene Herkunft als skurril-sinnliches Familienepos, in dem sich die Geschichte der BRD widerspiegelt

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Familiendramen vor zeitgeschichtlichem Hintergrund sind seit längerer Zeit en vogue im Kino und im Fernsehen. Nun hat sich auch Oskar Roehler an ein solches großes Zeitpanorama herangewagt. Fast 180 Minuten dauert der Film, der auf Roehlers eigenem Roman »Herkunft« beruht und durchaus als Zweiteiler im Fernsehen vorstellbar ist. Auf den ersten Blick könnte es einem angst und bange werden, doch Roehler, dessen bevorzugte Genres schon immer das Melo und der abgründige Familienfilm waren, schafft etwas Seltenes und Besonderes: Er inszeniert gewissermaßen ein Epos als schmutzigen kleinen Film, er erweckt ein konventionelles Format mit einer persönlichen Haltung und trashigpoetischen Kinomomenten zu neuem Leben. Im Gegensatz zu anderen deutschen Produktionen mit ähnlichen Sujets ist hier in fast jeder Einstellung zu spüren, dass es im deutschen Kino einen Fassbinder, einen Schroeter, einen Schlingensief gegeben hat. Und es ist zu bemerken, dass es Formen des amerikanischen Kinos gibt, von Sirk über Aldrich bis Apatow, mit deren Adaption man deutsche Themen packend in den Griff bekommen kann.

Die Geschichte einer Familie über drei Generationen hinweg, von 1949 bis in die späten 70er, erzählt Roehler, es ist die bizarre Geschichte seiner eigenen Familie, die er in Die Unberührbare, aber auch in Auftragsproduktionen wie Elementarteilchen bereits angerissen hat. Eine persönliche Geschichte also, die sich aus Erinnerungen und Fragmenten der Popkultur zusammensetzt, aus Tönen und Gerüchen, Lust und Ekel, Melodien und Emotionen. Vor allem durch das fiktionale Moment wird diese außergewöhnliche Story wahr und geradezu beispielhaft für viele, die in der BRD aufgewachsen sind. Seine Großeltern, seine Eltern und sich selbst erhöht Roehler zu Kinofiguren. Und wie immer in seinen Filmen stellt diese Erhöhung auch eine bestimmte Verzerrung dar, die die Figuren aber nie zu Karikaturen macht, sondern gerade zu tragikomischen, artifiziell-komplexen Charakteren.

Drei Generationen, geschildert hauptsächlich in drei Liebesgeschichten. Die erste Lovestory handelt von den Großeltern väterlicherseits des jungen Robert Freytag, der das Alter Ego des Filmautors ist. Zu Beginn ist dies gar keine Liebesgeschichte, sondern eine bittere Geschichte der Entfremdung. Der Großvater (Jürgen Vogel) kehrt verdreckt und verbittert, mit verfaulten Zähnen und fast verfaulter Seele aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück. Aber niemand will ihn, den ehemaligen Nazi, mehr haben, schon gar nicht seine Frau, dargestellt von Meret Becker als sinnlichem und spirituellem Zentrum des gesamten Films. Es wird lange dauern – und ist einer der berührendsten Momente des Films – bis die zwei endlich zueinander finden. Da werden andere, aktuelle Liebesbeziehungen längst zerbrochen sein, etwa die zwischen Robert Freytags Eltern, eine Lovestory zwischen zwei jungen Literaten in der frühen BRD, ein wenig an Roehlers wilde Ballade Lulu und Jimi erinnernd. Moritz Bleibtreu gibt den Vater und die großartige Lavinia Wilson spielt die Mutter, die natürlich auf die »unberührbare« Gisela Elsner verweist. Wie eine Außerirdische erscheint diese Mutter bereits als junges Mädchen. Ein teenage rebel girl, das aus dem großbürgerlich-ordinären Elternhaus ausbricht, enorm talentiert, zerbrechlich, tough, verloren. Sie ist so unglaublich präsent in ihrer Körperlichkeit und fremden Poesie, dass sie dann für lange Zeit einfach abwesend sein muss: eine Monsterfrau gegen alle Dämonen.

Die dritte Liebesgeschichte gehört dem jungen Robert Freytag selbst, dem staunenden Ich- Erzähler und leidenden Simplicissimus der scheinbar freien 60er und 70er Jahre. Verlassen von der Mutter und vernachlässigt vom Vater, verzweifelt pendelnd zwischen den kleinbürgerlichen Großeltern väterlicherseits und den protzig-reichen, unglücklichen Eltern seiner Mutter scheint dem Jungen letztendlich eine ganz normale deutsche Familie als Utopie. In die Tochter einer solchen Musterfamilie verliebt er sich schließlich, in einer Passage, die an die schönsten amerikanischen Teenagerfilme erinnert, aber auch an deftige Siggi-Götz- Klamotten der 80er. Die Chronik der Ereignisse und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen verknüpft Roehler sehr geschickt in seinem manchmal träumerischen, manchmal alptraumhaften Filmtrip zur Geschichte der BRD.

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