Ryusuke Hamaguchi: Und das Wort ist Film geworden
Fusako Urabe und Aoba Kawai im Episodenfilm »Das Glücksrad« (2021). © Film Kino Text
Mit »Drive My Car« hat Ryūsuke Hamaguchi den Oscar gewonnen und sich international als einer der großen Auteurs etabliert. Jetzt kommt sein »Glücksrad« ins Kino. Ein Werkporträt von Sascha Westphal
Die Frage kommt spät. Dabei liegt sie doch auf der Hand. Nur gleicht das sich an die Lesung von Yuzuki Nose anschließende Publikumsgespräch lange einem privaten Dialog zwischen der jungen Schriftstellerin und dem Biologen und Zellforscher Kohei. Der ist kurzfristig als Interviewer eingesprungen und nutzt die Gelegenheit des Austauschs vor allem für eine Reflexion seiner Empfindungen. So ergibt sich ein vielschichtiges Gespräch über die Macht der Literatur. Doch erst in dem Moment, in dem Kohei die Diskussion für das Publikum öffnet, wird das Offensichtliche zum Thema.
Eine ältere Dame, die der Lesung aufmerksam und interessiert, aber auch ein wenig distanziert zugehört hat, möchte von Yuzuki erfahren, warum sie ihre Kurzgeschichte so monoton vorgetragen hat. Dieser Tonfall, der keinerlei Emotionen erkennen ließ, hat die Dame so irritiert, dass sie gelegentlich Schwierigkeiten hatte, der Erzählung zu folgen. Das Risiko ist die von Ayaka Shibutani gespielte Yuzuki Nose bewusst eingegangen. Hätte sie sich bei ihrer Lesung auf die Emotionen eingelassen, die sie teils beschreibt, teils suggeriert, und sie in ihrer Stimme gespiegelt, hätte sie dem Publikum zugleich vorgegeben, wie es ihre Erzählung wahrnehmen und wie es auf sie reagieren soll.
Ein emotionaler Vortragsstil kommt für Yuzuki einer Manipulation gleich. Also hat sie sich für einen einförmigen, ganz und gar sachlichen Tonfall entschieden, in der Hoffnung, dass ihre Worte den Weg in die Köpfe und Körper der Zuhörenden finden. Dort sollen sie ihre Wirkung entfalten. Insofern erweist sich der Wissenschaftler Kohei als idealer Zuhörer. Er hat sich ganz Yuzukis Vortrag hingegeben und so eine transformative Erfahrung machen können. Getragen von dem gleichbleibenden Klang ihrer Stimme und ihrer extrem präzisen Prosa wird er für die Dauer der Lesung eins mit der Ich-Erzählerin der Kurzgeschichte.
Der Text allein würde eine solche die Grenzen von Körper und Identität überwindende Kraft nicht entwickeln. Erst der Akt des Lesens ermöglicht diese Reaktion. Davon ist nicht nur Yuzuki überzeugt. Auch ihr Schöpfer, der im Dezember 1978 in Kawasaki geborene Filmemacher Ryûsuke Hamaguchi, glaubt daran. In seiner Vision vom Kino kann von Filmbildern, aber vor allem von den Worten, die sie begleiten, eine besondere Macht ausgehen. Eine Macht, die einen transgressiven Effekt haben kann. Die Lesung und das Publikumsgespräch sind somit weit mehr als nur eine weitere Abschweifung in »Happy Hour« (2015), einem Film, der das erzählerische Abschweifen zu einer überwältigenden Kunstform entwickelt. Sie sind zugleich ein Bekenntnis Hamaguchis zu seiner Vorstellung von Kunst, eine selbst wieder Kunst gewordene Poetik eines Filmemachers, der wie kaum ein anderer ins Innerste der Menschen sieht. Das klingt nach einer Übertreibung. Aber von Hamaguchis Filmen geht tatsächlich der Effekt aus, den Kohei beschreibt. Für ihre Dauer wird man eins mit den Menschen, von denen sie erzählen.
Vor »Happy Hour«, einem beinahe fünfeinhalb Stunden langen Porträt einer Clique von vier Freundinnen, hat Hamaguchi mit »Sound of the Waves« (2012), »Voices from the Waves: Shinchimachi« (2013), »Voices from the Waves: Kesennuma« (2013) und »Storytellers« (2013) eine Reihe von miteinander verbundenen Dokumentarfilmen über die Tohoku-Region im Nordosten Japans gedreht, die 2011 besonders stark von dem großen Erdbeben betroffen war. In den Filmen hat er Menschen aus der Region ihre Geschichten erzählen lassen, meist ganz direkt in die Kamera. So entwickeln ihre Erzählungen eine unmittelbare, eine nahezu körperliche Wirkung. Der Blick in die Kamera erzeugt eine besondere Verbindung zwischen denen, die von ihr gefilmt werden, und all jenen, die schließlich diese Bilder von ihnen sehen und ihre Stimmen hören. Eine Verbindung, auf die Hamaguchi in seinen Spielfilmen ebenso setzt wie in seinen dokumentarischen Arbeiten. Die Grenze zwischen dem einen und dem anderen zerfließt in Filmen wie »Happy Hour« und »Drive My Car« (2021), für den er in diesem Jahr den Oscar für den besten nicht englischsprachigen Film gewonnen hat, sowieso immer wieder.
Vordergründig erzählt »Happy Hour«, der direkt nach den vier Filmen der Tohoku-Reihe entstanden ist, die Geschichten von Akari, Sakurako, Fumi und Jun. Die Freundinnen, alle Ende 30, leben in Kobe und versuchen jeweils auf ihre eigene Weise zu verstehen, wo das Leben und vor allem ihre Entscheidungen sie hingeführt haben. Die einzelnen Erzählstränge des Films sind dabei der Stoff, aus dem einst und – besonders im Fernseh- und Seriengeschäft – auch heute noch klassische Melodramen gestrickt werden.
Akari lebt seit ihrer Scheidung allein und steckt ihre gesamte Energie in die Arbeit als Krankenschwester. Sakurako wird von ihrem Mann, den sie seit ihrer Schulzeit kennt, auf ihr Dasein als Hausfrau und Mutter eines Sohnes reduziert. Fumi hat sich mit dem Kunstzentrum PORTO einen eigenen Raum geschaffen, doch fehlt ihr die Anerkennung ihres Mannes Takuya, der im Rahmen seiner Arbeit als Lektor auch Yuzuki Nose betreut und anscheinend eine besondere Verbindung zu ihr entwickelt hat. Und Jun, die im Zentrum der Clique steht und die Freundinnen überhaupt erst zusammengebracht hat, versucht sich mit aller Macht von ihrem Mann, dem Biologen Kohei, zu lösen. Sie will sich gegen seinen Willen von ihm scheiden lassen und gerät dadurch in eine Situation, die auf eindrucksvolle Weise die immer noch bestehenden patriarchalen Strukturen der japanischen Gesellschaft offenlegt.
Das melodramatische Potenzial dieser vier Lebensgeschichten ist offensichtlich. Aber Ryûsuke Hamaguchi unterläuft es auf allen Ebenen. Das beginnt schon bei der außergewöhnlichen Länge des Films. Sie ermöglicht es ihm, in Szenen wie der Lesung und dem Nachgespräch den Fokus seiner Erzählung auf andere Figuren zu richten.
Betrachtet man den großen Bogen des Films, sind Yuzuki und Kohei ebenso wie alle anderen männlichen Figuren Nebencharaktere. Aber für einen gar nicht mal zu kurzen Moment treten sie ins Zentrum von Hamaguchis Blick und werden zu komplexen Figuren, mit denen man sich ebenso wie mit Akari, Sakurako, Fumi und Jun identifizieren kann.
Nach und nach entsteht ein Geflecht von Momenten, Szenen und kurzen Geschichten, das alle Genregrenzen hinter sich lässt. In diesem Geflecht hat der Workshop eines Künstlers, der die Menschen dazu anleiten will, mehr mit ihren Körpern zu kommunizieren und sich so auch selbst besser kennenzulernen, ebenso Platz wie eine kurze Begegnung zwischen Jun und einer jungen Frau während einer Busfahrt. Dieses Nebeneinander von Alltäglichem und Bizarrem, von zufälligen Begebenheiten und einschneidenden Erlebnissen, wie etwa Juns Aussage vor dem Scheidungsgericht, löst die erzählerischen Hierarchien, die Filme und Serien dominieren, konsequent auf. So entwickelt sich das Porträt der vier Freundinnen sukzessive zu einem Panorama des japanischen Alltags. Ein Panorama, in dem Erinnerungen an die Filme von Yasujiro Ozu und Mikio Naruse ebenso mitschwingen wie an Jacques Rivettes »Out 1«, mit dem »Happy Hour« den Hang zu Um- und Abwegen teilt.
Eine andere Strategie Hamaguchis, das Melodramatische, das in unser aller Leben liegt, aufzugreifen, ohne dabei melodramatisch zu werden, ist ganz direkt mit Yuzuki Noses Vortragsstil verbunden. Während das melodramatische Kino und Fernsehen bewusst auf filmische Effekte setzt, hat Yamaguchis Stil etwas von der Ausdruckslosigkeit, zu der sich die Autorin während ihrer Lesung zwingt. Das ist eben keine platte, aus Desinteresse an ästhetischen Maßstäben und künstlerischer Unwissenheit geborene Ausdruckslosigkeit. Im Gegenteil erweist sie sich gerade in den Frontalaufnahmen von Menschen, die sprechen und von sich erzählen, als überaus kunstvoll. Diese Art der Einstellung, die Hamaguchi in seinen Dokumentarfilmen erprobt hat, zieht sich seither durch sein Werk. Er hat sie mit der Zeit perfektioniert.
Die Momente, in denen die Figuren direkt in die Kamera sprechen und den Blick nicht vom Objektiv abwenden, verbinden »Happy Hour«, »Asako I & II« (2018), »Das Glücksrad« (2021) und »Drive My Car«. Diese vier in vielen Aspekten höchst unterschiedlichen Arbeiten fließen in den Szenen, in denen Hamaguchi eine direkte Blickverbindung zwischen den Schauspielerinnen und dem Publikum etabliert, zusammen. Wie der Akt des tonlosen (Vor-)Lesens, den Yuzuki Nose so gekonnt zelebriert und der sich in einer der drei Episoden aus Das Glücksrad wiederfindet, sind auch die frontal gefilmten Szenen Teil eines größeren ästhetischen Programms, das Hamaguchi verfolgt. Wie die von ihm geschaffene Autorin setzt auch er alles daran, sein Publikum nicht zu manipulieren. Es geht nicht darum, flüchtige Gefühle oder gar Gefühlsausbrüche zu stimulieren. Hamaguchis Stil oder genauer die stilistischen Eigenheiten seiner Filme schaffen einen Boden für Offenheit. Man kann seine Filme in sich hineinlassen, so wie Kohei Yuzuki Noses Kurzgeschichte in sich einlässt. Und lässt man sie erst in sich ein, dann werden die Fragen, die sich seine Figuren stellen, und die Zweifel, mit denen sie in ihrem Leben ringen, zu den eigenen Fragen und Zweifeln.
»Nani kuwanu kao«, Hamaguchis erster Film, den er in den Jahren 2001 und 2002 als Student an der Universität von Tokio gedreht hat, trägt im Englischen den Titel »Like Nothing Happened«. Als sei nichts geschehen . . . Diese Vorstellung, dass sich die Welt einfach immer weiterdreht, dass trotz aller persönlichen Einschnitte, die seine Figuren erleben, das Leben selbst ungerührt fortschreitet, ist so etwas wie ein Leitmotiv in Hamaguchis Werk. Es findet sich in seinem kunstvoll kunstlosen Stil wieder. Und es prägt die Erzählungen seiner Filme.
Zu Beginn von »Asako I & II« verliebt sich die von Erika Karata gespielte Titelfigur Hals über Kopf in Baku. Es ist eine Liebe, die nicht zufällig mit dem Knall eines kleinen Feuerwerkskörpers beginnt. Eine ungestüme Liebe, die zumindest von Asakos Seite nichts anderes als absolute Hingabe zulässt. Nur ist ihr Geliebter niemand, der die Unbedingtheit ihrer Gefühle erwidern kann. Irgendwann verschwindet er einfach aus ihrem Leben, das zerbricht und doch weitergeht. Ein paar Jahre später lernt sie in einer anderen Stadt Ryôhei kennen, der ein Doppelgänger von Baku sein könnte. Sie sind einander wie aus dem Gesicht geschnitten, was Asako zunächst verunsichert, ihr aber schließlich hilft, sich noch einmal zu verlieben. Das, was bei Baku stürmisch und oberflächlich war, bekommt nun eine Tiefe, die sie allerdings aufs Spiel setzt, als sie Baku wiederbegegnet.
Trotz der Dramatik der Ereignisse und der fast schon eruptiven Gewalt von Asakos Gefühlen durchzieht das »Als sei nichts geschehen« auch diesen Film. Es offenbart sich im Gang der Handlung, die selbst in einer hochdramatischen Wendung noch etwas Alltägliches entdeckt. Menschen handeln nun einmal oft nicht rational und müssen dann aus ihren Entscheidungen das Beste machen.
Und wie schon in »Happy Hour« ermöglicht Hamaguchi dem Publikum, verschiedene Perspektiven einzunehmen. Asako ist zwar das Zentrum seiner Verfilmung von Tomoka Shibasakis Roman »Nete no samete mo«. Um sie dreht sich alles andere. Aber auch die übrigen Figuren können in den vielen ruhigen Dialogszenen, die den Film prägen, ihre Haltungen so klar und eindringlich zum Ausdruck bringen, dass man sie sich aneignet. Anders als in Yuzuki Noses Kurzgeschichte gibt es in Hamaguchis Filmen keine einzelne Ich-Erzählerin, deren Erfahrungen absolut gesetzt sind. In seinen Arbeiten sind letztlich alle Ich-Erzähler ihrer Leben. So konfrontiert er das Publikum mit der Vielstimmigkeit des Lebens und erlöst jeden einzelnen Betrachter, jede einzelne Betrachterin aus seiner oder ihrer oft auf sich selbst fixierten Sichtweise.
Filme wie »Asako I & II«, »Drive My Car«, eine recht freie Adaption von Haruki Murakamis gleichnamiger Kurzgeschichte über einen Schauspieler und Theaterregisseur, und die filmische Kurzgeschichtensammlung »Das Glücksrad«, in der Hamaguchi ein fast schon absurdes Spiel mit Zufällen als entscheidenden Komponenten des menschlichen Seins spielt, gehören ohne Zweifel zu den eindrucksvollsten Erörterungen der Liebe im Kino des 21. Jahrhunderts. Aber die Liebe ist in ihnen nie Selbstzweck.
Anders als die meisten romantischen Filme zelebrieren die Arbeiten von Hamaguchi Liebe nicht als Vervollkommnung des Lebens. In seinen Filmen führt die Liebe die Menschen immer wieder zu sich selbst zurück. Auf die Frage, warum er die Rolle des Wanja in seiner neuesten Produktion von Anton Tschechows »Onkel Wanja« nicht selbst spielen will, obwohl er sie in einer früheren Inszenierung des Stücks schon übernommen hat, antwortet der Theatermacher Yusuke Kafuku in »Drive My Car«: »Wenn man seinen [Tschechows] Text spricht, zerrt er das eigene Selbst hervor.« Darum geht es auch in den langen, beinahe dokumentarisch gefilmten Leseproben, in denen Kafukus Arbeitsmethoden dem Publikum zugleich einen Einblick in Hamaguchis Arbeit mit Schauspielerinnen und Schauspielern geben. Der Text, sei er nun von Tschechow oder aus einem Drehbuch zu einem seiner Filme, soll das eigene Selbst hervorziehen. Das gilt für die Spielenden wie auch für die, die ihnen beim Spiel zusehen.
Aus diesem Anspruch, der für Yamaguchi mit langen Leseproben einhergeht, die er den eigentlichen Dreharbeiten voranstellt, entsteht eine ganz besondere Authentizität des Spiels. In gewisser Hinsicht gleichen seine Darstellerinnen und Darsteller den Menschen, die in den Tohoku-Dokumentationen von sich und ihrem Leben erzählen. Sie spielen keine Rollen, sondern sind tatsächlich eins mit ihnen. Nur so können die langen Dialogszenen zwischen Kafuku und seiner Fahrerin Misaki Watari den Sog entwickeln, den sie schließlich auf das Publikum ausüben. Wenn sie gemeinsam im Auto sitzen und nach und nach immer mehr von sich preisgeben, sprechen sie nicht nur miteinander. Ihre Dialoge führen sie zu sich selbst zurück, bis sich in ihnen ihr Innerstes offenbart. Das Eigene der von Hamaguchi erschaffenen Figuren dringt dabei in das Eigene des Betrachters ein. Er erkennt sich in Kafuku ebenso wie in Watari wieder. Denn der Schmerz, den beide in sich tragen, ist wie das Leben an sich zugleich individuell wie universell.
Dass das eine immer auch das andere umfasst und sich das Persönliche keineswegs vom Universellen trennen lässt, ist der zentrale Gedanke in Hamaguchis Kino. Ein Gedanke, den er auf sehr unterschiedliche Weise in der ersten und der dritten Kurzgeschichte von »Das Glücksrad« aufgreift. Am Ende von »Magic (or something less assuring)«, der ersten Episode des Films, hat das kapriziöse, zu Intrigen neigende Model Meiko so ziemlich alle Beziehungen, die ihr wichtig waren, zerstört. Sie hat ihre beste Freundin Tsugumi hintergangen und ihren früheren Geliebten Kazuaki wahrscheinlich endgültig verloren. In diesem Moment, in dem die Erzählung schließen könnte, passiert etwas in Hamaguchis Kino absolut Außergewöhnliches. Die Kamera zoomt wie in einem italienischen Genrefilm der 1970er Jahre schnell an Meikos Gesicht heran. Als die Kamera sich dann wieder etwas zurückzieht und den Blick weitet, beginnt die letzte Szene noch einmal, und Meiko handelt diesmal anders. Statt ihren selbstsüchtigen Impulsen zu folgen, opfert sie ihre Gefühle für das Glück Tsugumis und Kazuakis. Auch das ist am Ende kein selbstloser Akt, denn nur so kann sie ihre Beziehungen zu den beiden retten. Aber in diesem doppelten Ende zeigt sich, dass der Mensch, zumindest in Hamaguchis Sicht der Welt, mehr als nur sein kleines, von Egoismus regiertes Ich in sich trägt. Er ist, wie es schon der Künstler in seinem Workshop in »Happy Hour« propagiert hat, in seinem Innersten mit allen verbunden.
Von dieser Verbindung zeugt dann auch »Once Again«, die dritte und letzte Episode von »Das Glücksrad«. Zwei Frauen, Moka und Nana, begegnen sich auf einer Rolltreppe, genauer: Sie fahren in entgegengesetzten Richtungen aneinander vorbei. Aber ein kurzer Augenkontakt reicht, schon sind sie überzeugt, sich zu kennen. Beide glauben, einander vor 20 Jahren aus den Augen verloren zu haben. Aber in ihren Herzen ist die andere immer noch präsent. Dieses Wiedererkennen erweist sich schließlich als Irrtum. Beide haben sie die andere mit jeweils dem Menschen verwechselt, der sie bis heute in ihren Erinnerungen verfolgt. Als ihnen das bewusst wird, trennen sie sich nicht einfach wieder, sondern beschließen, die Person zu spielen, mit der sie verwechselt wurden. Wieder scheint das Universelle im Persönlichen durch und gibt Hamaguchis Figuren nicht nur die Chance, einander zu verstehen. Moka und Nana stehen einander durch ihr gemeinsames Spiel bei und helfen sich gegenseitig, die Wunden zu heilen, mit denen sie seit dem Ende ihrer Jugend leben. Die zufällige Begegnung dieser beiden Frauen wird damit zum Sinnbild für die Macht des Spiels und der Kunst. Tschechows Stücke und Hamaguchis Filme zerren nicht nur das Selbst derer hervor, die sich ihnen aussetzen und sich mit ihnen auseinandersetzen. Sie helfen auch, das eigene Selbst zu verstehen und ihm ein wenig Frieden zu schenken.
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