Kritik zu Atlantide

© Venice Film Festival

Die »Serenissima« aus ungewohnter Perpektive: Yuri Ancarani erzählt ohne Drehbuch, in einer Mischung aus Dokumentation und Fiktion eine Geschichte um Konkurrenzgebaren und Hedonismus unter Jugendlichen in Venedig

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Hat man Venedig, die Stadt im Wasser, schon einmal so gesehen wie in Yuri Ancaranis passenderweise beim Filmfest auf dem Lido uraufgeführten Film »Atlantide«? In so knalligen Farben aus der Perspektive von Proleten, deren ganzes Sein darauf fixiert scheint, mit ihren Barchini, ihren hochfrisierten Motorbooten, schneller zu sein als die Konkurrenz? 

Was für ein faszinierender Irrsinn, dieses Leben von Daniele (Daniele Barison), dem sonnengebräunten Protagonisten des Films, der seinen Anfangsbuchstaben und zwei Sterne auf den Hals tätowiert hat. Er lebt quasi in seinem Boot, kifft und kokst darin, benennt es nach seinen aktuellen Freundinnen und hört pausenlos beatlastige ­Musik über sein wummerndes Soundsystem: Techno, Gangster-Rap, Trap. Hauptsache, es knallt.

Mit ihm, der auf Sant'Erasmo, einer Insel am Rande der Lagune von Venedig, lebt, gleiten und scheppern wir über das Wasser, tauchen ein in seine Welt, an deren Rändern sich der Wahnsinn um das Touristenmekka Venedig selbst manifestiert. In einer der vielen wunderbar gefilmten Einstellungen (Kamera: Ancarani selbst, Thomas Pilani und Mauro Chiarello) tanzen Daniele und seine Kumpels auf der Terrasse eines verlassenen Gebäudes, während sich im Hintergrund die verrückt großen Kreuzfahrtschiffe durch das Bild schieben. 

Dass dieser Wahnsinn zu einem großen Teil Realität ist, gibt »Atlantide« einen eigenen Drive. Der italienische Videokünstler und Filmemacher Ancarani wandelt an der Grenze zwischen dokumentarischer und fiktionaler Form und erzählt ohne Drehbuch in einem realen Milieu seine Geschichte. Er selbst sei, so der Regisseur im Interview, für zwei Sommer auf die Insel Sant'Erasmo gezogen und habe sich dort mit den Jugendlichen angefreundet, die nun, quasi sich selbst spielend, im Film zu sehen sind.

Ancarani macht das Unsichtbare sichtbar und das mit einer selbstbewusst überästhetisierten Form, die ganz dem Style-over-Content-Habitus seiner jungen Figuren entspricht. Die Farben über Lagune und Stadt leuchten verführerisch, sind teils in Neonlicht getränkt wie in einem Winding-Refn-Film, die Einstellungen strotzen vor instagrammablen, pittoresken Zentralperspektiven. Und auch der bewusst schmal gehaltene, auf die Realität aufgepfropfte Plot um Konkurrenzgebaren und gelebtem Hedonismus kippt gegen Ende zusehends. Erinnerungswürdig etwa jene drogeninduzierte Zwei-Personen-Technoparty auf Danieles Boot, die mit einem Stelldichein unter einer kleinen Brücke endet.

Nein, so war Venedig wohl noch nie im Kino zu sehen. »Atlantide« sprudelt trotz inhaltlicher Reduktion vor verrückter Lebendigkeit und lässt Realität und Kino, Welt und Kunst produktiv aneinanderreiben, sich befruchten. Dass nach einer inhaltlichen Zäsur diese Assoziation komplett das Geschehen dominiert und die Lagunenstadt, begleitet von einer großen Symphonie, durch eine Perspektivverschiebung und perfekte Spiegelungen wie eine mystische Unterwasserstadt wirkt, erscheint da nur konsequent.

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