Ein Monumentalfilm
Diesmal haben sich mir besonders die Szenen eingeprägt, die in der Morgendämmerung spielen. Das süße Leben trägt sich nachts zu, sie bilden also den Abschluss fast jeder Episode. Sie handeln vom Erwachen, obwohl die Nächte schlaflos waren. Einmal bricht der Tag ganz plötzlich an: im Trevi-Brunnen. Der Zauber verfliegt, aber magisch ist der Moment trotzdem.
Die Dämmerung, in der die Liebesnacht von Marcello (Mastroianni) und Maddalena (Anouk Aimée) ausklingt, bedeutet die Rückkehr aus einem flüchtig erfüllten Traum. Der Morgen, nachdem sich die Marienerscheinung der zwei Kinder als Lüge herausgestellt hat, geht einher mit Verlust: der Orientierung, der letzten Illusionen und Gewissheiten. Es ist fast noch dunkel, als Marcellos Vater hastig aufbrechen will, um den ersten Zug zurück in die Provinz zu nehmen, dann graut draußen der Morgen und man spürt, dass dies die endgültig verpasste Chance war. In der letzten Episode, als die Nachtschwärmer von der Orgie an den Strand kommen und das Meeresungeheuer finden, als Marcello die junge Kellnerin wiedersieht und die Brandung ihre Worte übertönt, stirbt die Hoffnung auf eine innere Klarheit. Und man fragt sich, wer die ganze römische Party eigentlich bezahlt.
Nichts lässt sich festhalten in »La Dolce Vita«, trotz der Abbildungssucht der Moderne, alles löst sich auf, der Wankelmut des Lebens siegt. Jedes Mal, wenn ich Fellinis Film wiedersehe, entdeckte ich etwas Anderes (wenngleich nicht unbedingt Neues) in ihm. Gewiss, in den großen Zügen ändert er sich nicht. Noch immer handelt er von verhinderter, ausgeschlagener Kommunikation. Und nach wie vor bin ich überzeugt, dass die Szene mit dem akustischen Effekt, in der Marcello und Maddalena in unterschiedlichen Räumen von Liebe sprechen, von Fitzgeralds »Zärtlich ist die Nacht« inspiriert wurde. Überhaupt ein toller Echo-Film, dramaturgisch wie motivisch.
Aber die Gewichte wandeln sich mit jedem neuen Sehen. Die Begegnung mit Anita Ekberg finde ich immer weniger verlockend. Im Gegenzug war ich überrascht, wie lang und wie zentral die Episode mit den lügenden Kindern und dem vergeblichen Medienrummel um sie ist. Zum ersten Mal verinnerlichte ich, dass der Film aus sieben Episoden besteht, ein Wochenzyklus sozusagen und ohnehin eine bestimmende Zahl im menschlichen Denken: Ihn treibt ein Ehrgeiz zum Universellen an. Zum Definitiven nicht, das würde Fellinis Temperament und Methode widersprechen. Und dennoch ist »La Dolce Vita« die Essenz eines Klimas geworden. Falls es Sie interessiert, ob er Bestand hat vor dem Urteil des aktuellen Zeitgeistes, lesen Sie besser nicht weiter.
Diese beliebte Übung scheint mir hier nämlich ebenso kleinlich wie überheblich, was soll sie anderes herausbringen als Banalitäten? Selbstverständlich haben sich die Sitten seither verändert, längst ist man schlimmere Vulgarität gewohnt in Sachen unverdienter Prominenz, Dekadenz und Medienzudringlichkeit. Und natürlich wären die Intellektuellen im Kreis von Steiner (Alain Cuny) heute ein klarer Fall für die Löschkultur. Da hält der Film jedoch bereits ironischen Abstand, während Steiners Angst vor dem Atomkrieg wieder furchtbar gegenwärtig geworden ist.
Der Schwefelgeruch des Skandalösen haftet nicht mehr an Fellinis Film. Aber das heißt nicht zwangsläufig, er sei veraltet. Er ist Befund und Prophezeiung. Er fordert eine persönliche, individuelle Haltung, keine reflexhafte. Seit der letzten Woche läuft er wieder in hiesigen Kinos, eine willkommene Gelegenheit, sich seiner Lebendigkeit auf der großen Leinwand auszusetzen. Auf ein Wort, verehrter „Filmdienst“: Fandet Ihr es wirklich eine so tolle Idee, zum Kino-Neustart eine Kritik der jüngsten Blu-ray-Edition zu veröffentlichen? Nichts gegen den Artikel – ich vermute, Cosima Lutz weiß gar nicht, wie man einen schlechten Text schreibt -, aber seine Platzierung erscheint mit rat- und taktlos.
Nein, »La Dolce Vita« muss man auf der großen Leinwand (wieder-) entdecken, er gehört dorthin wie »Ben-Hur«, »Letztes Jahr in Marienbad« oder »Zwischen Himmel und Hölle« von Kurosawa. Zuletzt hatte ich ihn in den 1980ern im Kino gesehen, seither immer nur daheim, wo ich mir keinen rechten Begriff mehr machen konnte von seinen Größendimensionen. Das gilt für die Außenszenen ebenso wie für die Interieurs. Vorher war mir nie das bizarre Ambiente der Notfallambulanz aufgefallen, in die Marcello seine Frau (Yvonne Furneaux) nach einem Selbstmordversuch bringt: Sie mutet an wie eine riesige, abweisende Parkhausetage. An den Orten des Films kann man verloren gehen: in den Wohnsiedlungen mit den desolaten Brachflächen vor der Stadt; in EUR, wo Mussolini seinen Traum einer architektonischen Moderne verwirklichte; letztlich auch in den eleganten Refugien der adligen und Neureichen. Rom ist nicht allein der Schauplatz des Films, sondern sein Handlungsträger. Das besiegelt schon die Anfangssequenz mit der per Helikopter transportierten Christusstatue, in der das imperiale Rom, die Christianisierung und die Gegenwart zusammen gezurrt werden.
Das mondäne Schwarzweiß der Nachtszenen kommt wuchtiger zur Geltung in der restaurierten Fassung, das Grau der Tagesszenen ist wahlweise leuchtender oder niederschmetternd fahler. Ist »La Dolce Vita« ein gewaltiges Tableau oder ein Fresko? Für mich eher Letzteres: Er ist nicht flächig, sondern steckt voller Nischen. Er ermutigt mich, jedes Mal andere zu entdecken. Es sind meist Nebensächlichkeiten, aber die sind bedeutsam in diesem Film, wo das Beiläufige das Hauptläufige trägt. Eine Trouvaille ist die Feststellung, wie mächtig der amerikanische Einfluss auf die römische Kultur seinerzeit war. Nino Rotas Partitur variiert lauter Stücke aus dem American Song Book, etwa "Stormy Weather". Italienische Populärmusik hört man praktisch gar nicht, obwohl die große Epoche der Canzone angebrochen war. Der arme Adriano Celentano muss als Rock 'n Roller auftreten.
Einer der Vorwürfe, die Fellini damals trafen, lautete, er habe den Film eines Provinzlers gedreht. Entzückt bekannte er sich in dem Punkt schuldig. Ich glaube, mit diesen Augen habe ich ihn jetzt auch gesehen. Er erlaubte mir, naiv zu sein. So entdeckte ich eine ungeheure Würde in den Komplimenten, mit denen die Nachtclubtänzerin Fanny (Magalie Noel) Marcellos Vater umgarnt. Auch Marcello selbst betrachtete ich mit viel größerem Wohlwollen. Ich nahm ihm seinen verschütteten Idealismus bereitwilliger ab als vorher. Er wurde zu einer gründlicher romantischen Figur: ein Optimist der Begegnungen, der hoffnungsvoller in jede einzelne geht und für einen Moment vergisst, dass in seinem Leben die Flüchtigkeit regiert.
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