Mubi: »The Humans«
Zur Einweihung ihrer Wohnung in Manhattan laden das junge Paar Bridget und Richard Bridgets Familie zum Thanksgiving-Essen ein. Vater, Mutter und die demente Großmutter kommen aus einer Kleinstadt bei New York, die Schwester aus Philadelphia angereist. Die riesige unrenovierte Maisonette weist nur Tisch, Stühle, eine behelfsmäßige Küche und eine Matratze auf. Es ist angerichtet: Die Einheit von Handlung, Ort und Zeit verrät die Herkunft dieses Dramas vom Theater. Stephen Karam, dessen 2016 am Broadway uraufgeführter Einakter mit Preisen überhäuft wurde, feiert mit seiner Leinwandadaption auch sein Filmregiedebüt.
Noch schlimmer als eine Familie ist keine Familie: Das sagt sich so leicht, doch diese Darstellung eines unlösbaren Dilemmas trifft mitten ins Herz. Selbst wenn auch hier die Probleme ein wenig überspitzt anmuten, handelt es sich bei den Blakes nicht um eine jener filmisch angesagten Großbürgersippen à la »Das Fest«, die sich bei Champagner über Enthüllungen von Missbrauch, Perversion, Selbstmord, tödlichen Krankheiten und Pleiten zerfleischen. Die Leiden dieser Familie sind unspektakulär. Noch ist Geld da, noch sind Krankheiten erträglich. Gefühle werden nicht auf dem Silbertablett präsentiert, geweint wird im Stillen. Sich zusammenreißen! So lautet der heimliche Imperativ.
Das Drama zeichnet mit manchmal galligem Humor das Psychogramm von »guten Leuten«, einer arbeitsamen, katholischen Mittelstandsfamilie, die gegen ihre Deklassierung kämpft, sich gegenseitig ihrer Liebe und ihres Zusammenhalts versichert, an den Glauben appelliert und doch von Angst und Frustration aufgezehrt wird.
Dieses Strampeln wird von Anfang an sichtbar, wenn die Eltern die im Rollstuhl sitzende Großmutter (June Squibb) durch den engen Flur bugsieren. Mutter Deirdre – Jayne Houdyshell, die ihre Theaterrolle übernimmt – ächzt zwischen Helfersyndrom und Verbitterung. Wenn die schwergewichtige Frau lange Zeit auf die Platte mit Muffins starrt, gefangen zwischen Zuckergier und einem sarkastischen Seitenhieb ihres Mannes, spiegelt sich in ihrem Blick das Drama einer lieblos gewordenen Ehe. Die Stand-up-Komödiantin Amy Schumer überrascht in ihrer ersten dramatisch überzeugenden Rolle als Anwältin, die aufgrund einer chronischen Krankheit ihren Job verlor und obendrein eine Trennung verkraften muss. Beanie Feldstein spielt als Bridget, die sich als Künstlerin verwirklichen will, in undankbaren Jobs feststeckt und ihrem Vater vorwirft, ihr kein Geld zu geben, einen Quengelcharakter, der an ihre Monica Lewinsky-Rolle in der Serie »Impeachment« erinnert. Derweil kocht und werkelt ihr Freund Richard (Steven Yeun) still im Hintergrund, darum bemüht, keine Welle zu machen. Im Zentrum steht Richard Jenkins als mosernder Vater, der nicht nur von traumatischen Erinnerungen an 9/11 heimgesucht wird. Zwischen Trösten und gehässig-klaren Ansagen steht er so oft brütend am Fenster, dass man ahnt: Da kommt noch was.
Die Inszenierung, untermalt von Musik von Philip Glass und Steve Reich, ist selbst eine virtuos komponierte Symphonie aus Gesprächen, durchzogen von Leitmotiven wie dem vergeblichen Versuch der Männer, ihre Alpträume zu erzählen. Doch trotz des hervorragenden Ensembles und der Dialogkunst wären diese Miseren kaum leinwandtauglich, hätte Karam nicht mit einem Kunstgriff die Wohnung selbst zum Mitspieler gemacht. Die labyrinthische Maisonette wirkt wie ein eigener Organismus. Kaputte Leitungen, flackerndes Licht und Wasserschäden spiegeln den menschlichen Zerfall, der Krach der unsichtbaren Nachbarin, von Müllpresse und Waschküche hat Poltergeistqualität. Der ständige Perspektivenwechsel von totaler Intimität bis hin zu einer Distanz, die bis zum Fensterbrett reicht und den Zuschauer in die Rolle eines unsichtbaren Lauschers versetzt, verleihen dem Familientreffen eine gar apokalyptische Atmosphäre. Dies ist kein Horrorfilm, doch der Schock wirkt lange nach.
Trailer OmU
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