Film des Monats August: »Evolution«
Nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz reinigen drei Männer eine Gaskammer. Sie entdecken dabei einen lebenden Säugling, Éva. Jahrzehnte später sehen wir Éva, wie sie mit ihrer Tochter Léna darüber streitet, ob sie Entschädigungsleistungen für Überlebende des Holocaust beantragt. Die dritte Episode zeigt Évas Enkel Jónás, der an einer deutschen Schule gemobbt wird und sich in seine muslimische Mitschülerin Yasmina verliebt.
»Evolution« von Kata Wéber und Kornél Mundruczó besteht aus drei eigenständig inszenierten Episoden. Durch die familiäre Verknüpfung der Figuren thematisiert er die Weitergabe des Traumas des Holocaust ebenso wie die verstörende Kontinuität des Antisemitismus in Deutschland. Die Formen der Inszenierung entlehnt der ungarische Regisseur dem Theater. In einer einzigen Einstellung sehen wir den Männern zu, wie sie versuchen, den Ort des Grauens zu säubern, eine vollkommen erschöpfende, unmögliche Aufgabe. Évas Dialog mit ihrer Tochter Léna beginnt als virtuoses Kammerspiel. Kann man den deutschen Behörden vertrauen, wenn es um Entschädigung, wenn es um den Schutz von Jüdinnen und Juden geht? Muss die Tochter die Geburtsgeschichte der Mutter in Auschwitz erneut anhören? Wie funktioniert Erinnerung, wie ist sie zu ertragen? Konsequent findet der Regisseur hier eine gleichsam surreale Lösung. Die Episode von Jónás und Yasmina schließlich weitet den Blick, zeigt, wie vielschichtig Rassismus und Antisemitismus in unsere Gegenwart hineinreichen. Ein Sankt-Martins-Umzug ist Signatur eines fast hilflosen Bedürfnisses nach Integration. Allein die Gefühle, die die beiden Außenseiter Jónás und Yasmina füreinander empfinden, können als mögliche Hoffnung verstanden werden.
Trauma des Überlebens und Gegenwart des Antisemitismus sind in diesem Film Thema von Verdrängung und mitunter physisch nach außen drängender Verarbeitung. Müssen nachfolgende Generationen sich mit der Geschichte ihrer Eltern und Großeltern auseinandersetzen oder haben sie das Recht auf eine unbeschwerte Kindheit? Können sie ein normales Leben führen angesichts der Kontinuität von Judenfeindlichkeit? »Evolution« gibt keine einfache Antwort, sondern konfrontiert uns mit diesen Fragen, die durch zunehmenden Antisemitismus an gesellschaftlicher Aktualität gewinnen. Der Film macht deutlich, was Walter Benjamin meint, wenn er schreibt: »Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet.«
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