Ein Geist, der zweimal wiederkert
Es gibt Irrtümer, die schleppt man jahrzehntelang mit sich herum. Dabei ließen sich einige unter ihnen mühelos ausräumen, wenn man nur genau zuhören oder -schauen würde. So stand ich bis vor einigen Tagen beispielsweise in dem Glauben, Josef von Sternbergs hitzige Japan-Eskapade trage den Titel „Die Sage von Anathan“.
Als ich den Film jetzt – zur Einstimmung auf »Onoda – 10000 Nächte Im Dschungel« von Arthur Harari , der in dieser Woche bei uns anläuft - wiedersah, merkte ich, dass ich stets eine Silbe übersehen hatte. Der Fehler fiel mir erst auf, als ich den korrekten Namen des Schauplatzes im Off-Kommentar hörte: „Anatahan“. Der Regisseur spricht ihn selbst, mit stimmungsvoll lakonischer Stentorstimme. Wie gut, dass ich nie als Drehorttourist in den Pazifik ausschwärmte, ich hätte glatt die falsche Insel angesteuert! Meine Erinnerung an den Film war ohnehin nur vage. Allerdings hinterließ er einen Eindruck, der meine Wahrnehmung der Geschichten über Holdouts bestimmte, die ich in den 1970ern las. Damals wurden einige dieser "Beharrlichen" entdeckt, versprengte Soldaten, die 1945 die Kapitulation Japans verpasst oder ignoriert hatten. Ich konnte mir deren Ausharren auf ihrem Posten nur so erklären, dass dieser sich auf einer winzigen, abgeschiedenen Insel wie Anatahan befinden musste, wo sie keinen Kontakt mit der Zivilisation hatten.
Das war keineswegs immer der Fall. Hiroo Onoda, der berühmtesten unter ihnen, hielt bis 1974 auf der philippinischen Insel Lubang die Stellung, welche rund 30 Kilometer lang, fünf Kilometer breit und besiedelt war. Mit den Bewohnern hielt er auf Schussweite Kontakt. Der versprengte Trupp auf Anatahan ließ sich immerhin sieben Jahre nach Kriegsende davon überzeugen, dass dieses tatsächlich stattgefunden hatte. Bis dahin deuteten sie Flugblätter und Lautsprecherdurchsagen als alliierte Propaganda: Völlig undenkbar, denn Japan hatte den Krieg doch gerade erst begonnen und war bereit, weitere 1000 Jahre zu kämpfen! Sie fürchteten, Japan habe sie vergessen, der Horizont blieb leer. Mit ihrer Disziplin ist es in von Sternbergs Film nach ein paar Jahren nicht mehr weit her. Er ist der Fiebertraum eines Fetischisten, eine Vielecksgeschichte um die einzige Frau auf der Insel, auf der Welt. Ein Treibhausmelodram, in einem japanischen Studio entstanden. Wie Arthur Hararis Film über Onoda ist er mit japanischen Darstellern in deren Muttersprache gedreht. Mit dieser furchtlosen kulturellen Aneignung haben sich die Parallelen beinahe schon erschöpft. Die aus Anatahan heimkehrenden Soldaten werden daheim triumphal als Helden empfangen („Heroes to all but ourselves“ heißt es grimmig einsichtig im Kommentar), was auch Onoda widerfuhr, Harari aber schon nicht mehr interessiert.
Frank Arnold hat, wie ich der aktuellen Ausgabe dieser Zeitschrift entnehme, »Onoda« nicht übermäßig begeistert. Mich hingegen schon. Was wiederum Werner Herzog von ihm hält, würde mich brennend interessieren. Allerdings ignoriert der gern das Werk anderer Filmemacher, er wusste angeblich ja nicht einmal, dass Abel Ferrara schon vor ihm einen »Bad Lieutenant« gedreht hat. Gleichviel, Herzog hat fast zeitgleich mit der letztjährigen Premiere von Hararis Film einen Roman über Hiroo Onoda veröffentlicht, »Das Dämmern der Welt«. Man begreift sofort ,weshalb eine solche Gestalt ihn fasziniert, die sich extremen Erfahrungen aussetzt. Herzog versteht etwas von Sturheit und den Möglichkeiten, der Zivilisation abhanden zu kommen. Der Regisseur hat den Weltkriegsveteranen 1997 noch persönlich kennengelernt und sein Buch beruht auf dessen Erzählungen und Memoiren, räumt sich aber im Impressum die Freiheit ein, die Geschichte nachzubessern, um dem Wesentlichen näher zu kommen. Onodas Geschichte verlangt danach.
»Das Dämmern der Welt« ist ein prächtiges Gegenstück zu Hararis Film (der wahrhaftig ein Solitär im französischen Autorenkino ist), stellt sich quer zu ihm und ergänzt ihn zugleich wundervoll. Ein paar Beispiele. Herzog erwähnt die berühmte Radioansprache des Kaisers nach den Bombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki. Auf deren euphemistische Diktion (die Dinge entwickeln sich nicht unbedingt in die Richtung, die Japan erhofft hatte) muss er nicht eingehen. Statt dessen hebt er hervor, was für ein Schock dies für seine Untertanen war, die nie zuvor die Stimme des Tenno gehört hatten. Sein Onoda sieht, wie in den 1950ern und 60ern amerikanische Verbände die Insel überfliegen (erst nach Korea, dann nach Vietnam). Im Film, zweifellos eine Budgetfrage, hört Onoda von Gerüchten eines Kriegs in Indochina, der seine Überzeugung zu bestätigen scheint, Japan habe neue asiatische Allianzen geschmiedet.
Beide Deutungen seiner Legende verbindet, dass sie diese als einen staunenswertes Abenteuer begreifen. Onodas drei Jahrzehnte andauerndes Ausharren auf seinem Posten, kraft Disziplin und Verblendung, stellt für beide Autoren erst einmal eine unvorstellbare Leistung dar. Ideologische Noten müssen sie nicht vergeben. Natürlich war Onoda das tödliche Instrument eines fanatischen Patriotismus'. Mit diesem Befund lassen es die hiesigen Kritiken zu Hararis Film, die ich bislang gelesen habe, meist getrost bewenden. Ich denke, mit ihrem Vorwurf der Heroisierung Onodas haben sie die Rechnung ohne die Empfänglichkeit des Regisseurs auf Ambivalenzen gemacht. Sein vom politischen Klima vorgegebenes, mit Inbrunst angenommenes und überbotenes Schicksal wirft selbstredend die Frage auf, weshalb dieses Leben in einer Fiktion so lange dauern konnte. Hierbei addieren sich Harari und Herzog hervorragend. Onoda, der sich aus Hang am Leben nicht zum Kamikaze-Piloten eignete, wird in geheimer Kriegsführung ausgebildet. Als Nachrichtenoffizier ist ihm nicht erlaubt, von eigener Hand zu sterben. Er soll einen Abnutzungskriegs als Guerrillakämpfer führen, der keine Glorie verspricht, muss zum unfassbaren Geist im philippinischen Urwald werden, ein unsichtbarer, allgegenwärtiger Albtraum seiner Gegner.
Im Dschungel, wo das Zeitgefühl verschwindet, weil die Natur es nicht anerkennt, ist Herzog in seinem Element. Der ist keine grüne Hölle, sondern "auch nur ein Wald". Auf andere Weise als Harari bezieht Herzog das tropische Klima mit ein. Er geht zum Beispiel der Frage nach, wie Onoda und seine Kameraden ihre Munition gegen Rost schützen: mit Palmöl. Dieser Onoda ist ein Buchhalter seiner Ressourcen. Bisher hat er so und so viele Patronen verbraucht, in diesem Tempo könnte sein Krieg noch mehrere Jahrzehnte dauern.
Im Film ist die Überlebensdynamik von Onoda und seinen Kameraden stärker ausgearbeitet. Eine Liebesgeschichte zwischen Männern hätte Hawks das genannt. Herzog konzentriert sich auf seinen Protagonisten. Er fiebert mit dessen Überleben. Konsequent schreibt er in der Gegenwartsform. Überhaupt liest sich der Roman wie ein literarisch aufgespecktes Drehbuch. Wer weiß, vielleicht war er das ursprünglich ja auch – schließlich umfasst das Buch nur rund 120 Seiten und setzt im Fortschreiten der Handlung ebenso kühne, gnädige Ellipsen, wie Harari es tut. Herzog wählt die Außenperspektive, beschreibt szenisch, ja behavioristisch, sogar, wenn er Mutmaßungen (etwa so: "Sie müssen schon eine Weile miteinander geredet haben.") anstellt. Das schließt eine innere Handlung, mithin Seelenbewegungen nicht aus, die er aber im Unbestimmten lässt ("Ab hier sind Onodas Erinnerungen verwischt."). Sein Protagonist spekuliert mit den verbliebene Kameraden auch darüber, wie der Krieg fortan aussehen soll. Herzogs Prosa ist beizeiten nüchtern, dann lyrisch, und immer bildstark; zumal, wenn es um Naturbeschreibungen geht.
Die Romanhandlung setzt praktisch am gleichen Punkt ein wie der Film: mit der Entdeckung des verschollenen Soldaten durch einen japanischen Touristen. Der Student Suzuki ist ein Aussteiger. Er hat das gleiche Alter wie Onoda, als der seinen Überlebensbefehl erhielt. Suzuki erschüttert, wie vorgezeichnet sein Lebensweg ist: "Mich hat erschreckt, dass ich auf einmal meine ganze Zukunft vor mir ausgebreitet sah." Er ist absolut der Richtige, um Onoda zu finden. Als dieser dann endlich seine Waffen streckt, erschüttert ihn nicht die Erkenntnis, dass er 30 Jahre seines Lebens vergeudet hat. Herzog versteht ihn zu gut dafür. Onoda ist verzweifelt, weil der Kalender, den er führte, um fünf Tage abweicht.
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