Buch-Tipp: Die Filme der 2010er

Spritztour durch ein Jahrzehnt

War 2016 das filmisch unergiebigste Jahr des vergangenen Jahrzehnts? Den Eindruck könnte man gewinnen, wenn man dieses Buch aufschlägt: Nur vier Filme aus diesem Jahr haben es unter die 100 besten Filme des Jahrzehnts geschafft – im Vergleich zu 14 aus dem Jahr 2013. Ich hätte ja Ozons »Frantz« (der Regisseur kommt im ganzen Band nicht vor), Jarmuschs »Paterson« und vor allem »Anomalisa«, Charlie Kaufmans und Duke Johnsons Animationsfilm für Erwachsene, mit aufgenommen. Aber das ist natürlich bei jedem Buch so, das einen Kanon festschreibt. Auch andere Filme, die mir aus diesem Jahrzehnt im Gedächtnis bleiben werden, wie Ken Loachs »Ich, Daniel Blake« oder Jonathan Glazers »Under the Skin«, tauchen hier nur in der Einleitung auf. 

Immerhin fällt der Band nicht hundertprozentig als »Hommage an Hollywood« aus, wie es zu Beginn des Klappentextes heißt, obwohl ein Oscargewinn meistens ein gutes Ticket ist. Dasselbe gilt für Auszeichnungen in Cannes und (etwas weniger) in Venedig, während die der Berlinale hier so gut wie keine Rolle spielen; immerhin ist Richard Linklaters »Boyhood« drin, aber das Fehlen dieses einzigartigen Films wäre ja auch eine Schande gewesen. 

Verdiente Autorenfilmer wie Woody Allen, Aki Kaurismäki, die Coen Bros. und Asghar Farhadi bringen es jeweils auf einen Eintrag, während Agnes Varda (mit »Augenblicke: Gesichter einer Reise«), Frederick Wiseman (»In Jackson Heights«) und Malik Bendjelloul (»Searching for Sugarman«) als Dokumentaristen allein auf weiter Flur stehen. Filme jenseits von Hollywood und Europa kommen vorwiegend aus Asien, einer aus Afrika – Abderrahmane Sissakos »Timbuktu« -, einer aus Lateinamerika. Letzerer, »Bacurau« von Kleber Mendonça Filho und Juliano Dornelles, ist zugleich einer von sechs Netflix-Filmen, die hier vorkommen, dabei, wie »Okja« und »The Devil All the Time«, einer, der bei uns nicht ins Kino kam. Da kann man am ehesten Entdeckungen machen, was auch für Lav Diaz' vierstündigen »Norte – The End of History« gilt. Mit Eliza Hittmans »Niemals Selten Manchmal Immer« und Shaka Kings »Judas and the Black Messiah« werden weitere Independents gewürdigt.

Die Einträge folgen dem aus den früheren Jahrzehntbänden des Verlags bewährten Muster: eine Seite für Credits, die zweite für das Plakat, sodann meist sechs weitere mit einem würdigenden Text, illustriert mit etwa sieben farbigen Abbildungen, dazu jeweils ein Kasten, der meist einen der Mitwirkenden des Films würdigt, manchmal aber auch thematisch angelegt ist, verfasst von dem Herausgeber und zehn weitere AutorInnen (mit unterschiedlich vielen Texten), von denen einige aus früheren Bänden der Reihe bekannt sind. Versammelte der Band über die 90er Jahre noch 141 Filme (auf weniger Seiten), so hat man sich diesmal auf hundert Filme beschränkt. Kein Buch, das man von vorn bis hinten durchliest, aber eines, das Anregungen zum Nachholen gibt. Oder zum Wiedersehen – etwa Quentin Tarantinos ­»Once Upon a Time ... in Hollywood«, der in der Einleitung als »perfekte Metapher für die Widersprüche und Ambivalenzen des heutigen Kinos« sehr einnehmend analysiert wird.

 


Jürgen Müller (Hg.): Die Filme der 2010er. Taschen Verlag, Köln 2022. 880 S., 40 €.

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