Kritik zu Annette

© Alamode Film

Der neue Film von Leos Carax folgt den formalen Verabredungen klassischer Hollywood-Musicals. Und entwickelt daraus nicht nur rauschhafte Bilder, sondern einen Diskurs über Kunst und Gesellschaft

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4 (Stimmen: 1)

Der Comedian Henry McHenry füllt bei all seinen Auftritten die Clubs und Theater. Das Publikum liebt ihn, und niemand weiß so recht, warum, vor allem Henry nicht. Adam Driver spielt ihn als Inbild des zweifelnden, zerrissenen Künstlers, der die Welt und die Menschen dafür verachtet, dass sie ihn lieben, obwohl er sich selbst hasst. Dieser Komiker, der immer in schwarzen Boxershorts und grünem Bademantel auftritt, nennt sich in seinem Programm »Ape of God« und bekennt so freimütig, dass er ein Lügner ist, gar der Vater der Lügen, ein Teufel in Menschengestalt. Doch für sein Publikum, das begeistert lacht und ihm chorsingend antwortet, ist das alles nur ein Spaß, ein Ritual, das es ermöglicht, die Wahrheit zu sehen und doch zu verleugnen. Denn so funktionieren das Leben und die Welt. Der Mensch will belogen werden, aber mehr noch will er sich selbst belügen.

»Annette«, das Musical von Leos Carax, zu dem Russell und Ron Mael von der Avantgarde-Band Sparks die Songs geschrieben haben, ist ein Film der Extreme. Auf der einen Seite bedient Carax die Konventionen des Genres mit einer Grandezza, wie man sie lange nicht mehr erleben durfte, und das nicht nur, weil fast jedes Wort in diesem Film gesungen wird. Auf der anderen Seite bricht er allerdings so ziemlich mit allem, was man inhaltlich von einem Musical erwartet. »So may we start?«, fragt Leos Carax zu Beginn höchstpersönlich. Er sitzt in einem Aufnahmestudio, in dem Russel und Ron Mael ihre Songs einspielen. Sie greifen diese Frage auf, verwandeln sie mit ihrer Band in einen Song, der wiederum den Film in die Welt hineinträgt.

Nach und nach brechen alle auf, verlassen das Studio und gehen auf die Straße, wo sich ihnen immer mehr Menschen, Background-Sängerinnen und Musiker anschließen. Auch Adam Driver und Marion Cotillard gesellen sich dazu. Gemeinsam zieht man durch das nächtliche Los Angeles, bis sich schließlich die Wege wieder trennen. Adam Driver steigt auf sein Motorrad, eine Nostalgie und Eleganz ausstrahlende »Triumph«, und Marion Cotillard setzt sich in den Fond eines Wagens. So gleiten sie in ihre Rollen, werden zu Henry und Ann, dem Comedian und der Opernsängerin. Zugleich gleitet der Film von der Metaebene in seine Handlung, die mit einem Auto und einem Motorrad beginnt, die in entgegengesetzte Richtungen davonfahren.

Eine Zerreißprobe, die Caroline Champetiers berauschende Plansequenz jäh enden lässt. Dem Weg aus dem Studio in die Stadt hat sie mit ihrer Kamera einen überwältigenden Sog verliehen. Die schwebende Bewegung dieser Plansequenz, der noch viele weitere ähnlich magische Momente folgen werden, könnte direkt aus einem der großen Hollywood-Musicals von Stanley Donen und Vincente Minnelli stammen. Überhaupt hat seit dem Ende des goldenen Zeitalters des Kinomusicals kein Filmemacher mehr die formalen Verabredungen des Genres derart ernst genommen wie Carax.

In den Bildwelten von »Annette« ist wie einst in Hollywood und in den opernhaften Filmen Michael Powells und Emeric Pressburgers alles möglich. So kann Marion Cotillard einmal von der Opernbühne direkt in einen Wald treten. Die Kunst löst die Grenzen zwischen Kulisse und Wirklichkeit auf und spiegelt so das Innere ihrer Protagonisten:  Ann geht so in ihrer Rolle auf, dass die im Bühnenbild abstrakt angedeuteten Bäume zu einem echten Wald werden. Die Kunst versetzt die Künstlerinnen, aber auch das Publikum in einen Traum- und Schwebezustand, in dem sich Bewusstes und Unbewusstes derart vermischen, dass sie eins werden. Darin liegt für Carax die Größe der Kunst und zugleich ihr Gift.

Die romantische Liebesgeschichte, die Henry und die gefeierte Opernsängerin Ann Defrasnoux für eine kurze Zeit erleben, kippt schnell in eine düstere Amour fou, die sich umgehend in ein illusionsloses Porträt toxischer Männlichkeit verwandelt. Selbst Annette, die Tochter der beiden, wird nicht als Mädchen geboren, sondern als Puppe, als Marionette. Mal zieht Henry an ihren Fäden, um sich weiter im Glanz der Liebe und des Erfolgs zu sonnen, dann Ann, die ihr Baby zum Instrument ihrer Rache macht.

In seiner Show warnt sich Henry selbst davor, in den Abgrund zu blicken. Das Dunkel, das ihm aus der Tiefe entgegenblickt, ist zu verlockend und zu mächtig. Das weiß er genau. Trotzdem kann er seinen Blick nicht abwenden. Adam Driver versucht erst gar nicht, seine Figur in eine Art von Sympathieträger zu verwandeln. Noch in Momenten der Liebe und des Glücks blickt Driver so grimmig und düster in die Kamera, dass einem bange werden kann. Marion Cotillards Ann scheint diese Blicke nicht zu sehen. Aber vielleicht entscheidet sie sich bewusst, sie zu ignorieren. Denn in einem Alptraum kann sie ihren Zweifeln und ihrer Furcht schließlich nicht mehr entkommen.

 Ann träumt davon, wie sechs Frauen Henry beschuldigen, sie bedrängt und missbraucht zu haben. Von Gewalt und Wut ist die Rede und von einer Gefahr, in der Ann schwebt. Doch dann nimmt ihr Traum eine Wendung. Sie sieht sich in all den tragischen Rollen, die sie auf der Bühne verkörpert hat, Madame Butterfly oder Mimi, Rollen, die stets im Tod enden. Während diese Bilder vor ihr aufflackern, weitet sich der Horizont dieses vom Theater wie vom Kino, von der Kunst wie von den Klatschmedien erzählenden Musicals noch einmal. Aus dem Porträt eines (selbst)zerstörerischen Künstlers, der einige, sicher beabsichtigte Ähnlichkeiten mit seinem Schöpfer aufweist, wird eine Reflexion über die Mechanismen von Kunst und Gesellschaft. Die Bilder von sterbenden und toten Frauen, die uns auf der Bühne und im Kino, im Museum und in der Literatur oft zu Tränen rühren, schaffen ihre eigene Realität. So wie die Geschichten von wütenden, jungen und nicht mehr ganz so jungen Männern, die nicht lieben können und eine vergiftete Wirklichkeit hervorbringen. Aber Leos Carax klagt diese Mechanismen nicht an. Er öffnet unsere Augen dafür. Wir alle müssen selbst entscheiden, ob wir uns immer noch belügen wollen oder ob wir die Wahrheit aushalten, mit der uns »Annette« konfrontiert.

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