DVD-Tipp: »Gothic« (1986)
»Gothic« (1986). © Koch Media
Es ist eine der folgenreichsten »Actionszenen« der Literaturgeschichte: Im verregneten Sommer 1816 vertrieb sich in der Villa Diodati am Genfersee eine illustre Runde um Lord Byron, Percy Shelley und seine spätere Gattin Mary Godwin die Zeit mit Laudanum, Okkultismus und Schauergeschichten: Die kreativen Räusche brachten nicht nur Mary Shelleys »Frankenstein« hervor, sondern auch den Draculavorläufer »Der Vampyr« aus der Feder von Byrons Leibarzt Dr. John Polidori – und waren damit die Geburtsstunde des modernen Horrors. Diese bemerkenswerte Begebenheit hat Ken Russell, das Enfant terrible des britischen Films, 1986 in »Gothic« auf eine einzige schicksalhafte Nacht verdichtet. Er zelebriert sie als kammerspielhafte Phantasmagorie mit allerlei Schockmomenten und Albtraummotiven: Gewitter und Nebelschwaden, Séancen und sexuelle Ausschweifungen, Totenköpfe und Ektoplasma sowie jede Menge kunsthistorische Zitate lassen den Film streckenweise wie eine Geisterbahnfahrt wirken, das Overacting der Stars (darunter immerhin Natasha Richardson, Julian Sands, Gabriel Byrne und Timothy Spall), die hoch artifizielle Bildgestaltung und die »wavige« Musik von Thomas Dolby erinnern immer wieder an Videoclips der 80er Jahre. Das hat hohen Unterhaltungswert, kann aber trotz einzelner faszinierender Sequenzen nicht an Russells beste Filme anschließen. Die Auseinandersetzung mit Traumata, mit Trieb und Tod, Lebensdurst und Verfall sucht »Gothic« wie ein Stummfilm ganz im Visuellen, wirkt aber in seinem verschwenderischen Umgang mit Zitaten und Symbolen etwas beliebig.
An der neuen Ausgabe von NSM sorgen neben der tadellosen Bild- und Tonqualität die in Fülle vorhandenen Extras für Freude, darunter mehrere Interviews sowie zwei Audiokommentare: der erste englisch mit Ken Russells Witwe Lisi Russell und dem Filmhistoriker Matthew Melia, der zweite deutsch mit Rolf Giesen und Gerd Naumann, die mit »Gothic« und Ken Russell ziemlich unsanft umgehen, dabei aber sehr viele Hintergrund- und Kontextinformationen liefern. Spannend etwa die Verweise auf Aleister Crowley, die Giesen im Film entdeckt und die ihn zum Schluss kommen lassen: »Es ist ein okkulter, ein böser, ein sexualmagischer Film«.
VÖ: 30. April 2021
Gothic GB 1986 R: Ken Russell. Da: Gabriel Byrne, Julian Sands, Natasha Richardson. Anbieter: NSM Records.
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