Kunstdebatte: Grausame Schönheit
»The Painted Bird« (2019). © Drop-Out Cinema
Gefolterte Kinder – in erlesenem Schwarz-Weiß. Der Kriegsfilm »The Painted Bird«, der jetzt ins Kino kommt, wirft eine grundsätzliche Frage auf: Dürfen Bilder des Schreckens uns ästhetisch ansprechen? Ein Essay von Georg Seeßlen
Wir leben im Licht oder im Schatten – wie man es nimmt – einer Religion, in deren Zentrum das Bild eines leidenden und sterbenden Menschen steht. Eines Menschen, der blutet, schreit und unfassbar allein ist hoch oben am Kreuz, während um ihn Menschen stehen, die grausame Scherze mit ihm treiben, und andere, die ohnmächtig seinem Leiden zusehen müssen. Die Passion. In Abertausenden Bildern, Skulpturen, Reenactments gegenwärtig – und immer mit dem Anspruch, mehr zu sein als nur eine Dokumentation oder eine Metapher. Sollen, können, dürfen wir dies, zwischen Matthias Grünewald und Pier Paolo Pasolini, »schön« nennen, in all seiner Grausamkeit? Es ist etwas anderes, wir haben ein schwer fassbares Wort dafür gefunden: Erhabenheit.
Im Erhabenen ist der Widerspruch zwischen dem Schönen und dem Hässlichen, dem Verdammenden und dem Erlösenden, dem Grausamen und dem Mitleid, dem Begreifen und dem Verschwinden, sogar der Widerspruch zwischen Sehen und Nichtsehen aufgehoben. Aber das Erhabene kann sich seiner selbst nie sicher sein; das historische, das psychoanalytische, das semantische oder das moralische Wissen greifen auch nach dem erhabenen Bild, wollen es dekonstruieren als Mythos, Propaganda, Gleichnis oder Illusion. Die Moderne hat das Erhabene ins Prekäre gestürzt; verschwunden ist es deswegen nicht.
Wo das Schöne dem Schrecklichen begegnet, findet es bestimmte Begründungen oder Zusammenhänge, in denen das eigentlich Verbotene doch erlaubt oder gar geboten ist. Das eine ist die kritisch-satirische Absicht, die ästhetische Taktik, durch eine Schockwirkung zum Nachdenken zu drängen: Der Schock legitimiert sich durch seine Heilsamkeit. Das Zweite ist das Groteske: eine besondere, das Reale wie das Sinnbildliche überschreitende Methode, einer verborgenen Wahrheit auf die Spur zu kommen, vielleicht über den Zusammenhang zwischen Lust und Gewalt, vielleicht über den zwischen dem Grausamen und dem Komischen. Große Bildermacher, von Francisco de Goya bis Stanley Kubrick, gingen von der Erkenntnis aus, dass, wer den Krieg ohne seine ästhetische Sensation zeigt, auch von seinem Schrecken etwas verschweigt. Und von Caravaggio bis Budd Boetticher reicht die Kette der Bilder, in denen die Gewalt selbst zum Kunstwerk werden muss. Sie steht gewiss zu Recht in schlechtem Ruf, die »Ästhetisierung der Gewalt«, doch ändert das nichts daran, dass es nicht nur eine Sprache, sondern auch eine Ästhetik der Gewalt gibt. So entsteht die kritische Kunst aus der Fähigkeit, diese Ästhetik zu zeigen, ohne ihr zu verfallen.
Wie also das Schockhaft-Empörende der Moral, so ist das Kritisch-Groteske, der bewusste Widerspruch von Abbild und Abgebildetem, der Erkenntnis verpflichtet, und beiden ist, wenn sie es zu weit treiben, jeweils der Mangel am anderen vorzuwerfen: Was nutzt die Wahrheit ohne die Moral, was nutzt die Moral ohne Wahrheit? Eine Frage, die man an jedes Kinobild stellen kann, das sich von Konventionen und Mythen löst.
Bleibt als Drittes nun eben die Erhabenheit oder das Sublime, das in unserem Kulturkreis vom Schönen scharf getrennt sein muss. Hier bedarf es sogar der Elemente von Entsetzen, Schrecken und Schmerz, um den »heiligen« Moment des Erschauerns zu erzeugen. Auch ist die plötzliche drastische Erkenntnis von Gemütszuständen, die ansonsten sehr negativ konnotiert sind, erhaben: Einsamkeit, Vergeblichkeit, Verlassenheit, das Unvorstellbare und Undenkbare. Im Idealismus wird das Erhabene zur Funktion der Würde, und damit vielleicht zum großen ikonographischen Defensivprojekt. Durch die Erhabenheit bekommt das Bild des Gefolterten eine Würde, die der Täter, mit all seinem furchtbaren Gelächter, nicht mehr zerstören kann. Es mag also dies das cineastisch-moralische Projekt sein: Es gilt nicht, das Gewaltbild zu vermeiden (denn das wäre unwahr), und es gilt auch nicht, es zu er- oder gar zu verklären (denn das ist unmoralisch), es gilt vor allem, dem Opfer die Würde zu geben, die der Täter ihm zu rauben im Begriff ist. Genau das freilich ist insofern wiederum tricky, weil es nur über eine Erhabenheit des Gewaltbildes selbst zu erreichen ist. Während nämlich das Erhabene in der idealistischen Tradition als ein Vorgang der distanzierenden Vergrößerung angesehen wird, kann es ebenso auch als Rücksturz ins Natürliche oder Kreatürliche angesehen werden, als Augenblick der Demut also. Jedenfalls geht es um einen Transfer zwischen Stärke und Schwäche. Wenn im Erhabenen sich Schwäche in Stärke verwandelt (wie im Grotesken Stärke in Schwäche), dann ist es auch ein Projekt des Widerstands. Der Augenblick, in dem Spartacus über seine Widersacher triumphiert, oder Mohammed el Gharani über die Folterer in Guantanamo oder Jacob, der Lügner, über das KZ-System.
Die Konstruktion des Erhabenen in der Ästhetik ist allerdings nicht nur ein Ausweg (im »transzendentalen Stil« des Kinos von Bresson zu Trier als Bild der Gnade im Augenblick der vollkommenen Verlorenheit aufgehoben), sondern auch eine Falle. Denn das verlangt nach einem Einverständnis mit dem, womit man nicht einverstanden sein darf. Das andere Extrem nun mag dabei eine Form der höllischen Erhabenheit sein: Es ist das Böse, das dabei größer als alles andere geworden ist, eine fundamentale Herrschaft von Gewalt, Missbrauch, Mord und Folter, ein System, an dessen Totalität sowohl die Vernunft als auch die Moral scheitern müssen. Das System der Gewalt wird zum ästhetischen System, und in dieser negativen Erhabenheit – die Welt als sublime Hölle –, kann ein nihilistisches Einverständnis ebenso entstehen wie ein Umkippen des Sublimen ins Groteske. So etwa im mittleren Werk der negativen Erhabenheit bei Bruno Dumont etwa, dem man vorwarf, was sich bei »The Painted Bird« wiederholen sollte, dass die Grandiosität seiner Bilder eben dieses ideale Ziel verfehlen muss: den Opfern die Würde zu geben, wie wir es in wechselnden Tonlagen bei den pessimistisch-kritischen Filmemachern wie den Gebrüdern Dardenne oder Ken Loach ins Werk gesetzt sehen.
Man kann das Kinobild nach verschiedenen Kriterien befragen. Zum Beispiel nach seiner »Glaubwürdigkeit«, der psychologischen Stimmigkeit, nach Komposition und am Ende auch nach Schönheit und Erhabenheit. Vielleicht gibt es aber noch eine fundamentalere Einstellung zum Bild: Man muss mit ihm einverstanden sein. Das Einverständnis mit dem Kinobild enthält all die moralischen, kognitiven, ästhetischen, logischen und biografischen Elemente zwischen Sehen, Wissen und Sprechen und ist nur bis zu einem gewissen Grad herstellbar. Einerseits sind wir gelegentlich mit Kinobildern einverstanden gegen unseren Willen, und andererseits können Bilder, mit denen wir einverstanden sind, von Menschen stammen, mit denen wir ganz und gar nicht einverstanden sind. Zum Dritten scheint es sogar Bilder zu geben, die es geradezu darauf abgesehen haben, die Frage nach dem Einverständnis offen zu lassen.
Jenes Filmbild, das dem Einverständnis, das es fordert, zugleich widerspricht, oder das, umgekehrt, zu einem Einverständnis herausfordert, obschon es gleichzeitig dessen Unmöglichkeit erklärt, nennen wir skandalös. Dabei sprechen wir nicht von den Skandalen der Filmgeschichte, die einen Tabubruch oder eine »Geschmacklosigkeit« hervorbrachten, sondern von Bildern, die skandalös bleiben, weil sie es in ihrer inneren Konstruktion sind. Sie erzeugen den Widerspruch von Faszination und Abscheu zum Beispiel, oder eben von Schönheit und Gewalt als unauflösbares Dilemma. Und sie lassen als kritische Bezeichnung nur Schock, Groteske, Skandal zu und – Erhabenheit.
Eine ganz einfache Erklärung für das Erhabene: Erhaben ist, was größer ist als alles andere, das daran beteiligt ist. Dem Erhabenen als Entrückung nach oben steht der Skandal als Versuch des Nach-Unten-Zerrens gegenüber. Der Skandal ist demokratischer als die immer vom Aristokratischen bedrohte Erhabenheit; am Skandal kann sich jede*r beteiligen, der vom Erhabenen sich ausgeschlossen wähnt. Daher haben wir es als Drittes mit einem Bruch durch das Gewaltbild und seine Ästhetik zu tun: Als in den siebziger Jahren die jungen Wilden des amerikanischen Horrorfilms ihre Zerstückelungs- und Ausblutungsorgien über die Mitternachtskinos brachten, drückten sie damit vor allem eine Art der Unversöhntheit aus. Das »Texas Chainsaw Massacre« und die »Night of the Living Dead« waren auch als Kriegserklärungen an die eigene Gesellschaft und Gesten gegen den in ihrem Namen geführten Krieg in Südostasien zu lesen, so wie auf andere Weise Elem Klimovs »Komm und sieh« ein Film war, der vehement dem Vergeben und Vergessen der Naziverbrechen in Russland widersprach. So unterschiedlich solche Filme sein mögen, sie sind verbunden durch die Versuche, an die Grenze des Erträglichen zu gehen, als bewusste Friedensstörung.
Die Konvention besagt (sie reicht sehr weit in unsere Kulturgeschichte), dass Gewalt immer hässlich ist. Einerseits, weil sie Deformierung, Dysfunktionalität und Entsetzen als Wirkung aufweist. Und andererseits, weil sie in sich eine Deformation menschlicher Gestik, Mimik und Kodierung ist. Zum Dritten aber, das geht bis ins Altertum zurück, ist die illegitime Gewalt eine Störung der kosmischen Harmonie. Sie löst den noch größeren Schrecken des Chaos aus. So wie es der Fuchs in Lars von Triers »Antichrist« sagt: Chaos regiert. Es ist der schrecklichste Moment der negativen Erhabenheit. Eine neue Ordnung entsteht aus nichts anderem als Lust und Gewalt, die nur den Gesetzen des Ornaments von Wiederholung, Variation und Steigerung gehorcht. Die Verbindung von Leni Riefenstahl und Marquis de Sade.
Es gibt Schlüsselmomente der »schönen Gewalt« in Filmbildern; etwa die Einstellung auf den jungen Mann, der sich beim Rasieren die Kehle zerschneidet in Martin Scorseses Kurzfilm »The Big Shave«, was man als Metapher auf den Vietnamkrieg, als Hommage an Hitchcock (der Duschmord) und eben auch als ästhetische Urtraumatologie des Regisseurs ansehen kann: die Selbstverletzung als verbotenes Opfer. Das Blut wird zur Kunst, die körperliche Deformation Teil der Selbstwerdung und Bruch mit der Umwelt. Ein anderes Beispiel: Die Installation des Künstlers namens Flaz, der sich wie ein Klöppel zwischen zwei Metallplatten hin und her schwingen lässt, bis an den Rand der Ohnmacht, was Romuald Karmarkar mit dem Bild des Tango tanzenden Paares unter dem Ort seiner künstlerischen Passion montiert. Jean Louis Trintignants Tod im Schnee in »Il Grande Silenzio«. Jeanne d'Arcs Flammentod, Medeas Zorn, die Begegnung der Coolness mit dem Sublimen in den Filmen Tarantinos, David Cronenbergs Body Horror, der Gang ins Noir . . . Warum uns alle diese so unterschiedlichen Gewaltbilder so ganz anders berühren als Schlachtengemälde und Machtfantasien, die sich in Propaganda und Mythos aufheben? Weil es sich um Schnittstellen zwischen der Realität des Körpers und der Metaphysik des Opfers handelt. Wir sind auf eine durch das Filmbild verwandelte Art mit dem Opfer einverstanden. So oder so. Wir haben den Skandal des Bildes in unser Innerstes geholt.
Es gibt eine Zone zwischen Schönheit und Grauen, in der jedes Zeichen, jedes Wort, jede Farbe und jedes Licht gefährlich sind. In dieser Zone verschwimmen die Grenzen zwischen Abscheu und Faszination. Oder zwischen der Darstellung und dem Dargestellten. Wie kann man ein schönes Bild vom Furchtbarsten machen? Darf man das Schreckliche schön zeigen, muss man es sogar? Die Kunst MUSS in diese verbotene Zone, es kommt nur darauf an, wie sie es tut.
Es beginnt damit, wie tief man mit seinen Mitteln in die intimsten Empfindungen der Biografien geht. Jüngst stellte sich die Frage wieder bei Gianfranco Rosis »Notturno« (2020), der in die Grenzgebiete von Syrien, des Iraks, des Libanons und dem seinerzeit »freien« Kurdistan führt. Rosi verbrachte drei Jahre dort und gewann das Vertrauen der Menschen und die Erlaubnis, die Trauer der Mütter in dem Gefängnis zu filmen, in denen ihre Kinder gefoltert und ermordet wurden. Diese Szene am Anfang wurde heftig kritisiert. Auch die Schlusssequenz, in der Kinder von einer Lehrerin vor der Kamera über ihre Misshandlungen befragt werden, löst größtmögliches Unbehagen aus. Und dann gibt es auch Szenen, in denen die Gräuel anhand von Kinderzeichnungen wiedergegeben werden. Diese Gräuel sind mit Szenen von berückender Schönheit konfrontiert: Bootsfahrten in den Sumpfflüssen. Und die kurdischen Kämpfer werden in einer kontrastierenden Schönschrift gezeigt, so als würde in ihnen ein kommendes Reich von Respekt und Menschlichkeit vorscheinen. Der Kontrast von Schönheit und Schrecken ist hier auf eine Spitze der Parteilichkeit getrieben, kulminierend vielleicht in Szenen, wo die Gewehre umarmt werden wie ein zärtlich geliebtes Wesen. Auch in seinem Film »Fuocoammare« (Seefeuer) über die Insel Lampedusa und die auf ihr gestrandeten Flüchtlinge hat Rosi die Nähe von Schrecken und Schönheit beschworen, ohne den Widerspruch diskursiv oder formal aufzuheben. Eine solche Methode bringt uns möglicherweise in Schwierigkeiten, überlässt uns aber die Aufgabe, diesen Widerspruch zu bearbeiten.
Ganz anders verhält es sich indes mit Bildern (und Filmen), in denen Schönheit und Schrecken nicht nebeneinandergestellt sind, sondern ineinander wirken. Während man über die Dialektik von Schönheit und Grauen bei Rosi trefflich diskutieren kann, muss man über einen Film wie »The Painted Bird« sprechen, obwohl es einem, wie man so sagt, die Sprache verschlagen hat.
Vielleicht also mag es theoretische Hilfslinien, Wegmarken der moralischen Beziehung zwischen Bild, Blick und Kritik geben. Doch am Ende bleibt man im Augenblick vor der Leinwand immer wieder allein mit einer Entscheidung: Bin ich mit diesen Bildern einverstanden oder nicht? Und wie kann ich sprechen über das Einverstanden-Sein oder Nicht-Einverstanden-Sein mit den Bildern?
Hier nun also das aktuelle Beispiel, an dem sich erneut die Frage nach Schönheit und Gewalt zwischen Erhabenheit und Würde, Demut und Skandal entzündet. Es gibt Filme, die uns unmissverständlich vor eine moralische Entscheidung stellen, nämlich sie zu verlassen oder ihnen bis zum Ende zu folgen. Zu den Filmen, die mit diesem Effekt bewusst arbeiten, gehört zum Beispiel Michael Hanekes »Funny Games«, der ganz explizit auf eine Form der Mitschuld derjenigen verweist, die dem Schauspiel beiwohnen. Auch »The Painted Bird« ist ein solcher Film, der den Zuschauerinnen und Zuschauern mit jeder neuen Gräuelszene nahelegt, den Saal zu verlassen, oder sich an einem ästhetisch-moralischen Exzess zu beteiligen. Bei der Uraufführung in Venedig soll es zu grotesken Szenen der Flucht und ihrer Vereitlung gekommen sein.
Zuerst die Fakten: Es handelt sich um die Verfilmung eines Romans von Jerzy Kosinski aus dem Jahr 1965, dem wir einiges an kontroversen Stoffen und noch kontroverseren Debatten um schriftstellerische Fantasie und Authentizität zu verdanken haben. Regisseur Václav Marhoul konnte bei seiner der Vorlage durchaus treuen Filmversion bedeutende Produktionsmittel einsetzen, internationale Stars wie Harvey Keitel, Stellan Skarsgård, Julian Sands, Udo Kier, das 35-mm-Format für das erlesene Schwarz-Weiß von Kameramann Vladimír Smutný (»Kolya«, »Drei Brüder«) und eine Länge von etwa drei Stunden erzeugen programmatisch »Größe«. Der Titel stammt von einer Szene, in der ein weiß bemalter Vogel von seinesgleichen zu Tode gerupft wird. In einem anderen Film wäre die Szene, in der dieses Massaker der Lüfte in aller Ausführlichkeit gezeigt wird, ein Intervallschock; hier ist es noch eine der erträglicheren Sequenzen. Marhoul hat die Odyssee seines namenlosen Helden über mehrere Jahre hinweg gedreht, so dass wir dem Darsteller, Petr Kotlar, auch beim Älterwerden zusehen. Es gibt hier keinen Lichteinfall, keine Einstellungsdauer, kein Ausstattungsdetail, das nicht sorgfältig geplant wäre. Marhoul als totaler Filmemacher, der über alle Details seines Werks die Kontrolle hatte, weiß genau, was er tut, und er tat es über einen Zeitraum hinweg, der selbstkritische Reflexion ermöglicht. Wir haben es daher nicht mit einem cineastischen Zornausbruch, sondern mit einem geplanten Großwerk zu tun. Vielleicht ist das beim Sprechen über diese Zumutung nicht ganz unwichtig.
Wie in »Komm und sieh« werden wir in die Perspektive eines Jungen (der ohne Namen bleiben muss) geführt: Der Sechsjährige aus gutbürgerlicher jüdischer Familie wird nach dem deutschen Überfall auf Polen von den Eltern aufs Land geschickt, wo er bei einer älteren Frau Unterschlupf findet. Doch die Frau stirbt, und er muss sich allein durch das Land schlagen, das in den unterschiedlichsten Arten von Gewalt und Missbrauch erstickt. Neben der Gefahr durch die Nazis wird der Junge von abergläubischen Bauern, von deutschen wie russischen Soldaten gejagt und Zeuge immer grässlicherer Verbrechen.
Der Roman geht von einer Art negativer Erziehung aus: Was der Junge an Tortur und Demütigung erfährt, will er zurückgeben, indem er selbst zu den Bösen gehört. Kosinski hatte den Roman als Autobiografie bezeichnet, später, unter dem Druck der Kritik, die ihm eine besonders makabre Art der Exploitation vorgeworfen hat, benannte er ihn in »Autofiction« um. Die Vorwürfe, die man dem Buch machte, bleiben auch dem Film nicht erspart. Um so mehr, als es selbst nach den Worten des Regisseurs gar nicht um den Holocaust, nicht um den Weltkrieg, nicht um Politik und Interessen geht – tatsächlich erscheinen die technischen Insignien der Moderne beinahe wie sonderbare Fremdkörper in der archaisch-grausamen Welt, während auf der anderen Seite die Schönheit nicht allein in der filmischen Komposition besteht, sondern auch in der Idylle der ländlichen Kultur, in der Allgegenwart erhabener vormenschlicher Natürlichkeit, in der formenden Kraft von Licht und Dunkel. Der Kontrast zwischen natürlicher Schönheit und menschlicher Grausamkeit ist also mehr als ein Effekt – er ist eine Aussage. Und jenseits des Skandals liegt in »The Painted Bird« eine Philosophie, die sich weder auf den heilsamen Schock noch auf die Groteske der Wahrheit berufen mag. Der Film zeigt nicht nur, er ist auch eine Erziehung zum Menschenhass.
Wie stets bei den »Desastres del la Guerra« geht es auch hier nicht um einen historischen Krieg allein, sondern um eine Menschengesellschaft, die jedes moralischen Halts beraubt ist. Und wie es in den Werken des Marquis de Sade oder bei Pasolinis »Saló« der Fall ist, ist der Schrecken dadurch gesteigert, dass er kein Ende nimmt. Einen solchen Film kann man nicht »sehen«, man kann ihn nur überstehen. Das Ereignis ist in jeder Hinsicht unwiederholbar. Wenn man »The Painted Bird« überstanden hat, weiß man, dass etwas Großes geschehen ist, und hofft zugleich, eine solche Erfahrung nicht noch einmal machen zu müssen.
Es ist nicht nur ein Bruch mit dem Widerspruch von Traumfabrik (=Illusion und Versöhnung) und unabhängigem Autorenfilm (= Wahrheit und Verstörung) und dem zwischen Poesie und Grausamkeit. Noch schimmern Momente des klassischen Erzählens durch: Heldenreise, Bewährungsproben, Überlebenskampf, Bindungs- und Ablöserituale. Aber all das führt stets zur eigenen Negation. Und zu einer Wiederholung des großen Kulturbruchs. Erzählen hilft nicht. Erinnerung ist Wahnsinn. Das Trauma ist unauflösbar. Worte erklären nichts. Bilder zeigen nichts. Das Subjekt ist so verloren wie das System. Die Schönheit der Natur ist kein Kontrast, sondern das, wohin der hoffnungslose Mensch zurückwill und -muss, nach der Verdammnis.
Wie »Saló« oder »Antichrist« erreicht auch »The Painted Bird« einen Punkt der nihilistischen Erhabenheit, eine fundamentalistische Steigerung des transzendentalen Stils: Der Menschheit an sich ist nicht zu helfen. Die Menschen nehmen bis zu einem gewissen Grad ihre Verdammung an, indem sie aus ihrer Niedertracht ein Schauspiel machen. Es ist überflüssig, eine andere Aussage darin zu sehen, sich danach zu fragen, ob diese Bilder dem historischen Geschehen gerecht werden, ob ihre schockierende Wirkung als Mahnung verstanden werden kann, ob sie einer Gesellschaft im Zustand der Verrohung einen kritischen Spiegel vorhalten will, oder ob, anders herum, wie bei Kosinski das Trauma zur Manie umgeschaffen wird, ob sich das Opfer an den Taten infiziert, ob ein Härtetest des Torture Porn sich hier mit ästhetischen und historischen Bezügen umgibt, damit um jeden Preis ein Œuvre maudit entstehe, wie durchdacht das Konzept – extreme Grausamkeit in extrem schönen Schwarz-Weiß-Bildern – sein mag. Auch die Skandale bei den Aufführungen, die moralischen Windungen von uns Kritikern – all das sind Nebenaspekte. Was bleibt, ist die Erfahrung, durch einen Film aus dem Kino vertrieben worden zu sein, früher oder später, empörter oder depressiver, voll Zorn oder voll Trauer, vertrieben wie aus einem Paradies, vertrieben wie aus einer Kindheit der Wahrnehmung, in die eine fundamentale Form der Heimatlichkeit zu scheinen versprach, vertrieben auch wie aus einem Diskursraum und einer moralischen Anstalt, vertrieben wie aus einer mehr oder weniger demokratischen Konsensmaschine, vertrieben wie aus einer Oase in der Wüste namens Wirklichkeit. Was bleibt, ist die Frage, ob und womit wir diese Vertreibung aus dem Kino verdient haben.
Es gibt nach diesem dreistündigen Höllentrip eine wirklich winzige Botschaft der Hoffnung. Selbst dass man diese gleichsam mit letzter Kraft ergreift, ist Teil des Kalküls.
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