25. Bremer Symposium zum Film
»Little Joe« (2019). © X-Verleih
»Kopf/Kino. Psychische Erkrankung und Film« hieß das Thema des 25. Internationalen Bremer Symposiums zum Film, das (nach der Absage im letzten Jahr) komplett virtuell – mit bis zu 80 Teilnehmern! – stattfand
Im letzten Jahr wegen Corona abgesagt, fand das 25. Bremer Filmsymposium jetzt mit 12 Monaten Verspätung statt, nicht als Hybridlösung, wie ursprünglich konzipiert, um auch Interessierte aus der Region zu erreichen, sondern komplett virtuell. Bis zu achtzig Teilnehmer verzeichneten die Vorträge und Gespräche, wobei die Technik fast perfekt funktionierte.
Das Thema »Kopf/Kino. Psychische Erkrankung und Film« dürfte ältere Kinogänger an die siebziger Jahre erinnern, als solche Filmreihen in kommunalen und Programmkinos ein großes Publikum anzogen. Einer der damals gezeigten Filme, Teinosuke Kinugasas »Eine Seite des Wahnsinns« (1926) gehörte auch in Bremen zum diesjährigen Filmangebot, das ansonsten aus Arbeiten der Jahre 1994 bis 2020 bestand, letzterer sogar eine Deutschlandpremiere, die eigens dafür mit deutschen Untertiteln versehen wurde.
Dieser Film, Maria Bäcks »Psychosis in Stockholm« , im Januar 2020 Eröffnungsfilm des Internationalen Filmfestivals Göteborg, war in seiner persönlichen Annäherung an das Thema prototypisch für die meisten der gezeigten Filme. Die Spielhandlung basiert auf der Jugend der Filmemacherin: ein junges Mädchen reist mit ihrer Mutter in die schwedische Hauptstadt, zur Feier seines 14. Geburtstags. Bereits bei der Zugfahrt setzen bei der Mutter psychotische Schübe ein, die sich in Stockholm noch verstärken, bis ihr Verhalten in der Öffentlichkeit schließlich dazu führt, dass sie in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird. Die Tochter erkundet alleine die Stadt, besucht am Ende noch einmal die Mutter, bevor sie alleine die Heimreise antreten will und merkt, dass sie von ihr nicht loskommt, trotz deren oft schroffem und abweisenden Verhalten. Ihre Mutter habe den Film mittlerweile dreißigmal gesehen, erzählte die Filmemacherin im Live-Gespräch, ihr ginge es psychisch heute besser als früher, auch wenn sie sich bei der Filmsichtung in der dritten Person wahrnehme »Das könnte mir auch passieren« und »Das hätte ich auch sagen können« kommentierte sie das Verhalten der – von einer Schauspielerin verkörperten – Mutter im Film.
Auch Deborah Hoffmann und Allie Light wählen in ihren Filmen, beide 1994 erstaufgeführt, einen persönlichen Ansatz, Hoffmann thematisiert in »Complaints of a Dutiful Daughter« das Verhältnis zu ihrer Mutter, die an Alzheimer erkrankt, während Light in »Dialogues with Madwomen« sechs Frauen porträtiert, die von ihren Wegen aus dem eigenen Wahn erzählen – die siebte Frau, am Ende eingefügt, ist die Filmemacherin selber. Und schließlich Karen Guthrie, die in »The Closer You Get« (2015) ebenfalls von der eigenen Familie erzählt, von der nach einem Schlaganfall der Pflege bedürftigen Mutter, um die sich die Familie versammelt, die sie filmende Tochter, deren Bruder und der Vater, der sich vor 15 Jahren von ihr trennte. Der Vater, der zehn Jahre lang in Afrika gearbeitet hat und während dieser Zeit kaum Kontakte zu seiner Familie in Schottland hatte, wird dabei zum eigentlichen Zentrum des Films, wenn dieser ein Familiengeheimnis enthüllt: er hat dort eine zweite Familie, von seinem anderen Sohn erfährt Karen erst, als der fünf Jahre alt ist. Dieser Film war einer von mehreren, die der Filmkurator Richard Warden vorstellte, allesamt Dokumentarfilme in der ersten Person.
Daran konnte W.J.T. Mitchell aus Chicago anknüpfen: für ihn wurde der Selbstmord seinen schizophrenen Sohnes Gabriel Ausgangspunkt für die Erforschung von dessen künstlerischer Auseinandersetzung mit der Krankheit, während seine Tochter Carmen Elena Mitchell sich der unvollendeten Arbeiten ihres Bruders annahm, um sie weiterzuentwickeln und dann an die Öffentlichkeit zu bringen. Dazu gehört auch die Fortführung der website, auf der Gabriel Mitchell seine Arbeiten präsentierte.
In dieselbe Richtung ging auch der Vortrag von Silke Hilgers (Berlin), die zu (digitalem) Film in der Kunsttherapie forscht. Dabei bedeutet Ästhetik, über das Material Dinge sichtbar und veränderbar zu machen – wobei das Endprodukt nicht für die Bewertung durch andere erschaffen wird, sondern es darum geht, etwas für sich selber zu machen. Hilgers berichtete über die Arbeit mit Anorexiepatientinnen, die ihr Problem mithilfe eines Trickfilms aufarbeiteten. Dabei wurde ein non-direktiver Ansatz verfolgt, d.h. die jungen Frauen fanden viele unterschiedliche Materialien vor, aus denen sie auswählen konnten. Da sie ständig die Möglichkeit haben, mit ihren Handys zu filmen, lag die Erstellung eines Films nahe.
Neben solchen sehr persönlichen Ausführungen gab es auch traditionelle akademische Referate, überwiegend solche, die sich einzelnen Filmen in Form von ‚close readings‘ annäherten, darunter David Cronenbergs »Naked Lunch« und »eXistenZ« (‚Drogenwahn – Zur filmischen Ästhetik der Psychose‘), Inarritus »Birdman (oder die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)« (‚Die unverhoffte Macht der Komplexität‘),
Peter Weirs »The Truman Show« (‚Pathogenealogien des Kinos‘) oder Edward Zwicks »Love & Other Drugs« (‚Eine gute Dosis Heilsversprechen‘). Zur Analyse von Jessica Hausners »Little Joe« (‚Kassandra auf Psychopharmaka‘) durch Sabrina Gärtner gab es zusätzlich die Aufzeichnung eines aufschlussreichen 48minütigen Gespräches, das die Autorin (deren Dissertation über Hausner kürzlich auch als Buch erschienen ist) vorab geführt hatte.
In den filmübergreifenden Vorträgen ging es nicht nur um klassische Dokumentarfilme wie John Hustons »Let there be light«, Frederick Wisemans »Titicut Follies«, Alan Kings »Warrendale« und Raymond Depardons »San Clemente« (die den Blick von außen versuchen zu konterkarieren, indem sie die Betroffenen selber zum Sprechen bringen); sondern auch um neuere Arbeiten, die das Thema aus einer Innenperspektive angehen wie Gamma Baks »Schnupfen im Kopf« oder den schon erwähnten »Dialogues with Madwomen«, sowie um neuere fiktionale Familiendramen wie »Still Alice« (2014) oder »The Father« (2020). Als bemerkenswerte ästhetische Verfahrensweise zur Darstellung psychogener Erkrankungen wurde schließlich die Animationstechnik der Rotoskopie (etwa im ebenfalls gezeigten »Waltz with Bashir« und in Richard Linklaters »Waking Life«) vorgestellt, kann dieses Verfahren doch als eine Strategie der Aneignung funktionieren, wenn es um das Verdecken und Überdecken von Wirklichkeit geht.
Bemerkenswert war auch die Tatsache, dass Filme mittlerweile Eingang in die Theoriebildung gefunden haben: so veröffentlichten Lou & Joe Gold zunächst eine Abhandlung mit dem Titel »‘Truman Show‘ Delusion. Psychosis in the Global Village« und später das Buch »Suspicious Minds. How Culture Shapes Madness. ‚The Truman Show‘ and Other Strange Beliefs«, während das ‘gaslighting’ (als eine Form von »psychischer Gewalt beziehungsweise Missbrauch, mit der Opfer gezielt desorientiert, manipuliert und zutiefst verunsichert werden und ihr Realitäts- und Selbstbewusstsein allmählich deformiert bzw. zerstört wird«) auf dem gleichnamigen Film (1943; deutsch »Das Haus der Lady Alquist«) basiert, in dem Charles Boyer seine Ehefrau Ingrid Bergman in den Wahnsinn zu treiben versucht.
Das Bremer Filmsymposium fand wiederum als Kooperation der Bremer Universität mit dem kommunalen Kino »City 46« statt, wobei sich im Lauf der Jahre die Gewichtung zugunsten des Akademischen verschoben hat, was sich sowohl in der Themenfindung als auch bei den Referenten widerspiegelt. Waren unter ihnen in früheren Jahren auch Filmkritiker, so sind es heute ausschließlich (überwiegend jüngere) Universitätsangehörige. Dass damit vermutlich die interessierte Bremer Öffentlichkeit weniger erreicht wird, ist schade, denn gerade das diesjährige Thema mit den vielfach persönlichen Herangehemsweisen in den Ausführungen wie in den Filmen hätte dafür einen guten Ansatz geboten, zumal die Vorträge durchaus auch für Nichtakademiker verständlich waren, was in früheren Jahren, auch bei populäreren Themen (wie etwa ‚Science Fiction‘), durchaus nicht immer der Fall war. Dass der Spagat zwischen Wissenschaft und breiterer Öffentlichkeit gelingt, wäre der Veranstaltung zu wünschen.
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