Streaming-Tipp: »Collective«
Wer seinerzeit die Nachrichten verfolgt hat, wird sich vielleicht noch erinnern: In der Nacht vom 30. auf den 31. Oktober 2015 brach in einem Nachtclub im rumänischen Bukarest ein Feuer aus. Es starben 64 Menschen, darunter vier der fünf Mitglieder der Band, deren Auftritt das Feuer ausgelöst hatte. An den Ausmaßen der Katastrophe aber war nicht allein die funkensprühende Pyrotechnik der Metalcoremusiker schuld. Der Kunststoffschaum, der zur Schallisolierung des Clubraums verwendet worden war, fing binnen Sekunden Feuer und löste sich in hochgiftigen Rauch auf. Die Feuerausgänge waren zum Teil blockiert oder abgeschlossen. Die Krankenhäuser Bukarests waren augenblicklich überfordert mit den vielen Schwerverletzten, fast 200 an der Zahl. Von der Korruption, die dafür verantwortlich war, dass der Nachtclub trotz kaum vorhandener Feuerschutzvorkehrungen eine Lizenz hatte, bis zu markanten Defiziten des Gesundheitssystems offenbarte der tragische Vorfall binnen Stunden ein so erschreckendes Versagen zahlreicher Institutionen, dass es wenige Tage darauf zu tagelangen Massenprotesten in Bukarest und anderen Städten Rumäniens kam. In ihrer Folge musste die Regierung mit Victor Ponta an der Spitze zurücktreten. Die Presse rief die »#colectiv revolution« aus.
Das war wahrscheinlich der Punkt, an dem der Vorfall aus den Nachrichten hierzulande auch schon wieder verschwand. Von der Revolution hat man nicht mehr viel gehört. Colectif – so hieß übrigens der Nachtclub. Als Titel für Alexander Nanaus Dokumentarfilm kommt ihm ein doppelter Sinn zu, den der internationale Titel, »Collective«, noch deutlicher machen will. Nanau begibt sich mit seinem Film in der Tat auf die Suche, allerdings weniger nach der »kollektiven« Schuld als vielmehr nach einer gesamtgesellschaftlichen Verkettung von Umständen. Seine Dokumentaraufnahmen setzen ein paar Wochen nach dem Ereignis ein. Zunächst folgt Nanau der Arbeit eines unermüdlichen Reporters, der in Erfahrung bringen will, warum eigentlich mehr Menschen später in den rumänischen Krankenhäusern als beim eigentlichen Feuerunfall starben. Was er herausbekommt, lässt buchstäblich das Blut in den Adern gefrieren. Man erfährt Dinge über das rumänische Gesundheitssystem, die man nie wissen wollte.
Nach und nach verlagert Nanau seinen Beobachtungsschwerpunkt auf den nach den Protesten neu eingesetzten Gesundheitsminister Vlad Voiculescu, der als ehemaliger Aktivist mit dem Willen zur Transparenz zahlreiche Reformen anstrebt. Voiculescu hat Nanau einen in der Politik seltenen Zugang gewährt – weshalb der Zuschauer hier vor laufender Kamera zum Zeugen dessen wird, wie der junge Idealist Fehler macht, die eine gut organisierte Exregierungspartei im Zusammenspiel mit entsprechend eingestellten Medien für ihre Kampagne der Wiederwahl ausnützt. Auch das ist echter Stoff zum Fürchten. Dass dieser bis ins Mark erschütternde Film, bei dem man den Blick aber kaum mehr abwenden kann, gerade erst bei den europäischen Filmpreisen als Bester Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde, lässt dagegen hoffen.
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