Nahaufnahme von Vanessa Kirby
»Pieces of a Woman« (2020). © Benjamin Loeb / Netflix
Vanessa Kirbys erste große Rolle war die der Prinzessin Margaret in der Serie »The Crown«. Die Lust an der Provokation, die sich da zeigt, ist typisch für die englische Schauspielerin. Jetzt spielt sie in Kornél Mundruczós »Pieces of a Woman« so radikal auf wie Gena Rowlands bei John Cassavetes
Es ist einer dieser ganz raren Momente, in denen eine andere Welt aufscheint. Für die Dauer eines Augenblicks lässt sich in »Stolz und Freude«, der achten Episode der ersten Staffel von Peter Morgans Netflixserie »The Crown«, erahnen, dass Geschichte nicht in Stein gemeißelt ist. Sie wird von Menschen gemacht. Alternativen sind denkbar.
Königin Elisabeth II. befindet sich zusammen mit Prinz Philip auf einer mehrere Monate währenden Reise durch das Commonwealth. In ihrer Abwesenheit übernimmt ihre jüngere Schwester Margaret einige der repräsentativen Aufgaben der Krone. Auf einem Diplomatenempfang in London hält sie eine selbst geschriebene Rede, die deutlich vom Protokoll abweicht. Sie macht Scherze und setzt sich als strahlender Stern einer Monarchie in Szene, deren Nimbus gerade in ihrer bewusst zur Schau gestellten Unnahbarkeit liegt.
Es ist ein provokanter Auftritt, der etwas Befreiendes hat. Denn in ihm zeigt die britische Krone einmal ein menschliches Antlitz. Das ist weder im Interesse der Höflinge noch des Premiers Winston Churchill. Jede individuelle Note gefährdet in ihren Augen das Bild der allen menschlichen Schwächen enthobenen Monarchin. Margaret muss auf Weisung von Elisabeth alle weiteren offiziellen Auftritte der Königinmutter überlassen.
Aber die Rede führt einem trotz allem die Vision eines anderen Königshauses vor Augen. Während sie mit ihrem entwaffnenden Charme den Saal zum Leuchten bringt, zieht die von Vanessa Kirby gespielte Margaret alle Blicke auf sich. Es ist ein wahrhaft magischer Moment, auch für die im April 1988 in London geborene und im Stadtteil Wimbledon aufgewachsene Schauspielerin. In den ersten Folgen von »The Crown« stand sie wie bei vielen ihrer Film- und Serienauftritte zuvor im Schatten anderer Schauspielerinnen und Schauspieler.
Das Zentrum der Serie bleibt auch in »Stolz und Freude« die von Claire Foy gespielte Elisabeth. Doch mit ihrer Rede vor den Diplomaten löst sich Margaret zumindest ein wenig aus ihrer Umlaufbahn. Und genau diese kleine Freiheit gibt Vanessa Kirby den Spiel-Raum, den sie benötigt, um sich die Rolle der Prinzessin ganz und gar zu eigen zu machen. Das kleine Lachen, das nach Abschluss der Rede Kirbys ganzen Körper erfasst, das sie eben nicht unterdrückt, sondern regelrecht genießt, ist mehr als nur Ausdruck von Margarets Triumph. In ihm offenbart sich das Innerste einer Frau, die an der ihr zugewiesenen Rolle zerbricht.
Anders als Claire Foy, die Elisabeth in den ersten beiden Staffeln von »The Crown« mit größter Sachlichkeit und Distanz verkörpert und die Königin als menschliches Enigma präsentiert, holt Vanessa Kirby Prinzessin Margaret ganz nah an den Zuschauer heran. Sie spielt deren Widersprüchlichkeit geradezu genüsslich aus. In einem Moment gleicht Margaret einem kleinen Mädchen, das sich in der Welt verloren hat. Im nächsten strahlt sie ungeheure Stärke aus.
In Interviews erzählt Kirby gern, wie sie hinter ihren Rollen verschwindet und sich dabei ertappt, wie ihre Figur zu denken. Diese Fähigkeit, eins mit denen zu werden, die sie auf der Bühne oder vor einer Kamera verkörpert, hat die 1988 in Wimbledon geborene Vanessa Kirby in nicht einmal zehn Jahren zu einer der am meisten gefeierten britischen Theaterschauspielerinnen ihrer Generation gemacht. Dabei war sie zunächst von einer renommierten Schauspielschule abgelehnt worden. Nach einem Studium der englischen Literatur an der University of Exeter hat sie 2009 dann selbst zugunsten eines Engagements am Octagon Theatre Bolton auf eine Schauspielausbildung an der London Academy of Music and Dramatic Art verzichtet. Wenig später bekam sie erste Film- und Fernsehengagements. So hatte sie ihr Fernsehdebüt in der ersten Staffel von Abi Morgans BBC-Serie »The Hour« (2011). Es war zwar nur eine kleine Rolle als Tochter eines britischen Lords, die 1956 in eine Spionageaffäre hineingezogen und schon in der ersten Folge vom MI6 ermordet wird. Dennoch stand sie im Zentrum der Serie. Ihr Gesicht, in dem Angst und Mut, Paranoia und Hoffnung im steten Widerstreit stehen, ist das eigentliche Herz von Morgans Erzählung, die ein zutiefst ernüchterndes Bild von den politischen Mechanismen der britischen Demokratie zeichnet.
Die wenigen kurzen Auftritte, die Vanessa Kirby in »The Hour« hat, genügen ihr dennoch, um ein zutiefst berührendes Porträt einer Außenseiterin in der britischen Gesellschaft zu gestalten. Wie später Prinzessin Margaret ist auch Ruth eine junge Frau, deren Hoffnungen und Ambitionen von der Gesellschaft bewusst geopfert werden. Die beiden passen nicht in das Bild, das England in den 50er Jahren von sich nach außen projizieren will, und dafür müssen sie einen hohen Preis zahlen. Genau diesen Bruch mit dem Status quo sucht Kirby in nahezu all ihren Rollen. Mit einem geradezu unheimlichen Gespür für die Risse, die durch ihre Figuren gehen, erschafft sie immer wieder unvergessliche Momente, die nicht selten den eher engen Rahmen sprengen, den ihr Autorinnen und Regisseure setzen.
So gehören Kirby die freiesten Momente in Brian Kirks eher steifer und konservativer Fernsehadaption von Charles Dickens' »Große Erwartungen« (2011). Wenn ihre Estella, dieses Geschöpf, das von Kindheit an dazu erzogen wurde, sich an den Männern zu rächen, alles vergisst, was ihr Miss Havisham beigebracht hat, ist ein Leuchten in Kirbys Augen, das alles andere überstrahlt. Miss Havishams Geschöpf, eine makellose Puppe, deren Schönheit die Männer blenden und verderben soll, ist weit mehr als eine kalte Femme fatale, die sich selbst ihr Herz herausgerissen hat.
Das Leuchten, das aus Estella hervorbricht, wenn sie sich ihrer Erziehung und Mission widersetzt, erfüllt auch Kirbys Szenen in John Boormans »Queen & Country« (2014), dem Sequel zu »Hope & Glory« (1987).
Aber anders als Kirk, der sie letztlich dennoch in das Korsett einer biederen Literaturverfilmung presst, lässt Boorman Kirby ganz bewusst jeden Raum, die Konventionen zu sprengen. Als ältere Schwester von Boormans Alter Ego Bill Rohan ist sie genau der Freigeist, dessen unbeschwertes und mutiges Verhalten in den frühen 50er Jahren den Weg in eine neue Zeit weist.
Der Hang zum Subversiven ist aber nicht nur typisch für Vanessa Kirbys Rollen. Er ist auch ein zentraler Aspekt ihrer Persönlichkeit. In einer Industrie, die junge Schauspielerinnen wie sie fortwährend in formelhafte Rollen presst, ist es ihr gelungen, immer wieder höchst individuelle Zeichen zu setzen. Ihre Auftritte in Blockbusterproduktionen wie »Mission: Impossible – Fallout« (2018), in dem sie die undurchsichtige Waffenhändlerin White Widow spielt, und »Fast & Furious: Hobbs & Shaw« (2019) zeugen von einer unbändigen Lust, die Klischees des Genrekinos auf den Kopf zu stellen. In der Rolle der britischen Agentin Hattie behauptet sie sich nicht nur gegen ihre Ko-Stars Dwayne Johnson und Jason Statham, sie stiehlt ihnen selbst in den Actionszenen immer wieder die Show.
Wie eng die Grenzen gesteckt sind, in denen sich weibliche Film- und Fernsehrollen bewegen müssen, zeigt Vanessa Kirby in Kornél Mundruczós Drama »Pieces of a Woman«, das seine Uraufführung bei den Filmfestspielen von Venedig erlebt hat und nun auf Netflix herauskommt. Martha hat sich für eine Heimgeburt entschieden und rückt von dieser Entscheidung auch nicht ab, als es während der Wehen zu Komplikationen kommt. Der ungarische Autorenfilmer Mundruczó zeigt diese tragisch endende Geburt in einer gut 20-minütigen Plansequenz, in der Kirby an die Grenzen des Darstellbaren geht. Eine geradezu überwältigende Körperlichkeit stürzt den Zuschauer in ein verstörendes Wechselbad der Gefühle. In einem Moment strahlt Kirby seliges Glück aus. Die freudige Erwartung, schon bald ihr Kind in den Armen zu halten, versetzt Martha in einen fast rauschhaften Zustand. Doch schon im nächsten Augenblick verfliegt dieser Rausch und weicht Schmerzen, die sie zu zerreißen scheinen. Mit diesem überaus mutigen Porträt einer Frau, die einen unvorstellbaren Verlust erleidet und danach einen Weg zurück ins Leben sucht, setzt Vanessa Kirby neue Maßstäbe. Wie einst Gena Rowlands in den Filmen von John Cassavetes verschiebt sie die Grenzen des Möglichen im Kino.
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