Gold, vielleicht Platin, aber auf keinen Fall Silber

Natürlich ist das ganze Unterfangen fragwürdig. Schon numerisch wirkt es schief: Das 21. Jahrhundert ist gerade mal 20 Jahre alt, da sollen bereits dessen größten 25 SchauspielerInnen gekürt werden? Viel zu voreilig, voller himmelschreiender Auslassungen und mit einem provokanten 4. Platz. Ich muss sagen, ich finde es sehr sympathisch.

Das gilt sowohl für die Idee wie das Ergebnis. In der letzten Woche veröffentlichte die „New York Times“ ein auch visuell anregendes Stück, das mir seither nicht mehr aus dem Kopf geht (https://www.nytimes.com/interactive/2020/movies/greatest-actors-actresses.html). Die Liste beruht nicht auf einer Umfrage, sondern ist das Resultat der Beratungen ihrer beiden Filmredakteure Manohla Dargis und A.O. Scott. Die haben Gewicht. Ihre Auswahl ist eminent subjektiv (aber nicht auf ungenierte Weise), dabei aber entschieden einer Vorstellung von Diversität verpflichtet. Sie weist in die Zukunft. Über einige unter den 25 lässt sich schwerlich streiten, aber über alle diskutieren. Eine schöne Gelegenheit auch, heute der Inhaberin von Platz 11 zu gratulieren: Julianne Moore. Die Ärmste, hat am selben Datum Geburtstag wie Godard.

Zu diesem Zeitpunkt erreichen einen Filmjournalisten alljährlich Anfragen um Bestenlisten, denen man 2020 Jahr mit nur erheblichen Schwierigkeiten nachkommen kann (obwohl das Frühjahr sehr gut war). Aber der Radius der NYTimes- Liste ist eben weiter gefasst. Dargis und Scott stellen ihre Auswahl meist in Dialogform vor, was bei diesen Zwei stets spannend ist. Den Vorwurf des Voreiligen entkräften sie, indem sie der Überschrift ein verschämtes „so far“ hinzufügen; die skandalösen Auslassungen räumen sie selbst vorsichtshalber gleich zu Anfang ein. Ich kann ihnen folgen, wenn sie die letzten zwei Jahrzehnte zu einem goldenen, ja einem Platin-Zeitalter des Filmschauspiels erklären. Im Hinblick aufs Hollywoodkino, auf dem dann doch der quantitative Schwerpunkt liegt, waren sie eine viel reichere Zeit als beispielsweise die 1980er. Die Perspektive ist sehr amerikanisch, was sich etwa in der Frage „Who gets to be a film star?“ zeigt, aber nicht patriotisch. Am sentimentalischem Votum der Filmakademie müssen sie sich nicht orientieren, von den üblichen Oscar-Verdächtigen kaum eine Spur. Nur Mahershala Ali taucht auf Platz 23 auf und an Daniel Day-Lewis führt wohl kein Weg vorbei. Das Gros der gekürten US-SchauspielerInnen bilden People of Colour. Da habe ich mich am meisten über die Anwesenheit von Alfre Woodard (17) sowie von Wes Studi (19) gefreut. Studi ist der Geniestreich dieser Auswahl. Er steht nicht repräsentativ für das von Hollywood unausgeschöpfte Reservoir indianischer Darsteller (er vertritt also nicht Graham Greene, Gil Birmingham oder Adam Beach), sondern eben für sich selbst. Nach der Lektüre des Textes habe ich mir sofort „Hostiles-Feinde“ angeschaut, wo seine mimische Autorität ein großartiges Gegengewicht zur wortreichen Verschwiegenheit Christian Bales bildet. Mit zunehmendem Alter wird er Lee Marvin immer ähnlicher. „If Westerns were still popular“, lautet der unwiderstehlichste Satz im Dialog von Dargis und Scott, „he could right a lot of wrongs.“

Allerdings fungieren einige Schauspieler durchaus auch als Stellvertreter. Rob Morgan (20) repräsentiert die Kategorie der Nebendarsteller und bringt die Zwei auf das Paradox des character actor, der unverzichtbar und unsichtbar ist. Sie führen stets gute Gründe für ihr jeweiliges Votum an. (Nur ein Rang stand für sie von vornherein fest, der des dann doch verblüffenden Siegers.) Deshalb bedaure ich es, dass sie in einigen Fällen nicht selbst für ihre Wahl und ihre Subjektivität einstehen, sondern Regisseure zu Wort kommen lassen. Warum? An Selbstbewusstsein gebricht es ihnen nicht. Aber wenn James Gray, Bong Joon-hoo oder Denzel Washington über ihre LieblingsdarstellerInnen sprechen, ist der Endreim ihrer Laudatio jeweils die Erkenntnis, dass diese so viel mehr in die Rolle eingebracht haben, als die Vision der Regisseure erahnte.

Der Blick von Dargis und Scott auf das Weltkino wird stark von dem geleitet, was in den USA herausgekommen ist und Furore machte. Der Auftakt ist mit Gael García Bernal (25) und Sonia Braga (24) furios gelungen. Von nun an lasse ich die Rangfolge endgültig weg, der Countdown soll ja wenigstens etwas spannend bleiben. Das asiatische Kino ist gut repräsentiert, auch wenn die Wahl mir letztlich ein wenig zu sehr von den Regisseuren her gedacht ist. Jedoch bin ich für die Information dankbar, dass Zhao Tao früher einmal Tänzerin war, was ihre Darstellung in „The World“ noch in einem anderen Licht betrachten lässt.

Europa ist natürlich vertreten, mit zwei Französinnen (eine von ihnen trat in diesem Jahrhundert in nicht weniger als 50 Filmen auf!), überraschend wenigen Briten und dem großen Toni Servillo. Was Dargis und Scott über sein Spektrum an gegensätzlichen politischen Figuren sagen, weckte meine Neugier, mir „Loro – Die Verführten“ noch einmal anzuschauen. Geradezu obszön, mit welcher Wehmut er Berlusconi da ausstattet und adelt, hinter einer monströsen Schicht von Schminke und dem gnadenlos gefrorenen Lächeln! So inspirierend wie in seinem Fall sind fast alle Debatten, die die beiden führen. Gleichviel, ob man sich über die Rangfolge oder die Vergessenen ihrer Liste ärgert - ihre Zwiegespräch stellt eine vielschichtige Auseinandersetzung mit dem dar, was Schauspielkunst aktuell ist.

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