TV-Tipp: »Nicht mehr fliehen« (1955)
Wenn man sich die filmische Einzigartigkeit von Herbert Veselys »Nicht mehr fliehen« vor Augen halten will, muss man nur einen kurzen Blick auf sein Umfeld werfen. Mitte der 50er Jahre dominierten Heimat- und Musikfilme die deutsche Produktion, etwa »Wenn die Alpenrosen blühn« von Heimatfilm-Routinier Hans Deppe oder »Die Mädels vom Immenhof« von Wolfgang Schleif. Dabei war 1955 gar kein schlechtes Jahr für den deutschen Film, es entstanden auch die beiden Filme um den 20. Juli, Ophüls' »Lola Montez« und Siodmaks »Die Ratten«.
Als diese Filme in ihren Ateliers oder vor imposanter Bergkulisse gedreht wurden, realisierte Vesely in der Gegend rund um Almeria – wo später die Spaghetti-Western entstehen sollten – sein frühes Meisterwerk »Nicht mehr fliehen«. Vesely war zu diesem Zeitpunkt gerade mal 23 Jahre alt, hatte aber schon eine Tournee durch die Filmclubs mit dem Kurzfilm »An diesen Abenden« hinter sich. Das Geld für die Produktion, 90 000 Mark, stellte ihm der Göttinger Produzent Hans Abich zur Verfügung, der mit seiner Göttinger »Filmaufbau« ambitionierte Literaturverfilmungen produzierte; später sollte er der Programmdirektor der ARD werden.
Inzwischen ist es nicht mehr ungewöhnlich, dass Spielfilme mit experimentellen Mitteln arbeiten, denkt man etwa an die Langsamkeit im Werk des Ungarn Béla Tarr. Aber auch für uns Heutige bleibt »Nicht mehr fliehen« ein hermetisches Werk. Eine Geschichte jedenfalls gibt es nicht. Aufgenommen in grobkörnigem Schwarz-Weiß und im damals üblichen 3:4-Format, zeigt die erste Einstellung eine wüstenartige Landschaft mit verdorrten Bäumen und kahlen Bergen, über die ein alter Lastwagen ins Tal fährt. Am Steuer Gerard, ein, wie wir aufgrund seiner Pistole annehmen müssen, Krimineller, und auf der Pritsche Sapphire (Xenia Hagman), eine schöne, rätselhafte Frau mit einem breiten Armreif. Die Straße endet in einer Sandwüste, nicht weit weg von einem verlassenen Hafenstädtchen. Strom- oder Telegrafenmasten stehen herum, ein Schienenstrang führt Richtung Meer. Aus dem Off hören wir Funkverkehr, es ist die Rede von einer »Zone« und der Zündung einer Atombombe.
»Niemand da?«, schreit Gerard in den Ort, und tatsächlich zeigt der Film als weiteres Personal nur noch Inès, die die Nähe zu Gerard sucht, einen Jungen, der Steine schichtet, und den Hotelier, der Sapphire ein Zimmer vermietet, eigentlich eher ein Provisorium, nach außen offen. Aber sie richtet sich ein, mit Schminkutensilien und ihrem riesigen Koffer, aus dem sie ein Cocktailkleid wählt. Wer sind die beiden? Der Titel legt nahe, dass sie auf der Flucht sind. Auf der Rückseite eines Hauses prangt eine große Null, sie sind an einem Nullpunkt angelangt. »Nicht mehr fliehen« ist ihr Endspiel.
»Als ich die Idee hatte«, schrieb Vesely, »war ich von dreierlei beeindruckt bzw. beeinflusst: die Wüste, ein Gesicht und die Struktur der Fuge.« Irgendwann erschießt Gerard das Mädchen Inès, so wie Meursault in Albert Camus' »Der Fremde« einen namenlosen Araber ermordet. Man kann in »Nicht mehr fliehen« aber noch mehr Einflüsse erkennen und sehen, was die deutsche Intelligenzija dieser Jahre umtrieb: den Existenzialismus, die Faszination am Absurden, aber auch die französische Filmpoesie, etwa in den Werken von Cocteau, die die Filmclubs damals zeigten.
Beim Wiedersehen merkt man auch, wie »Nicht mehr fliehen« vieles vorweggenommen hat, ohne dass die Regisseure wahrscheinlich Veselys Film gekannt haben, etwa das Wüstenendspiel »Deadlock« von Roland Klick oder die rätselhafte Zone in Tarkowskis »Stalker«. Aber vielleicht ist »Nicht mehr fliehen« auch eine Paraphrase auf den Film noir, nur nicht in nächtlichem Chiaroscuro, sondern im gleißenden Sonnenlicht.
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