Oscars ohne Filme?
»Mulan« (2020). © Walt Disney
Dass die Verleihung der Academy Awards ausfallen würde, kann sich niemand vorstellen – aber schon jetzt steht fest, dass das Feld der Konkurrenten anders beschaffen sein wird, als ursprünglich gedacht
Immerhin, so scherzte Taika Waititi Mitte April auf Twitter, wird die nächste Oscarverleihung nur 30 Minuten lang sein. Der Neuseeländer befürchtete offensichtlich, dass das Kinojahr 2020 für mehr Sendezeit schwerlich Material bieten werde. Im Februar noch hatte er selbst eine Show von über dreieinhalb Stunden Länge ausgesessen – und am Ende immerhin den Oscar fürs Beste adaptierte Drehbuch für »Jojo Rabbit« mit nach Hause genommen.
Corona war auch damals bereits ein Thema in der Filmwelt, wie Fotos von Anfang Februar belegen, die Waititi und Bong Joon-ho mit Atemschutzmasken am New Yorker Flughafen zeigen. Doch erst seit Ende März herrscht bekanntlich weltweiter Ausnahmezustand, die Kinos sind geschlossen, die Filmstarts verschoben, zahlreiche Festivals abgesagt und wann und in welcher Form die Normalität auch in die Multiplexe und Arthousesäle zurückkehrt, wagt keiner so recht zu prognostizieren.
Darüber nachzudenken, welche Konsequenzen all das nun für die kommende Oscarverleihung haben wird, die für den 28.Februar 2021 angesetzt ist, erscheint einerseits verfrüht. Und ist es andererseits natürlich überhaupt nicht, schließlich würde das Rennen um den meistbeachteten Filmpreis der Welt unter normalen Umständen genau jetzt beginnen. Der Vorlauf der Academy Awards ist gemeinhin genauestens durchgetaktet: Beim Festival in Cannes bringen sich üblicherweise erste Favoriten in Stellung (siehe im vergangenen Jahren »Parasite«); in Venedig, Telluride und Toronto sortiert sich dann das restliche Feld der Oscaranwärter, und schon im November geht es meist nur noch um die Feinjustierung, bevor tatsächlich nominiert wird. Wenn nun gleich die ersten Monate dieses langwierigen Oscarrennens komplett wegbrechen, ist dann nicht auch der Rest in Gefahr?
Bei den Academy Awards geht es seit 1929 um die besten Filme, die im Vorjahr in die amerikanischen Kinos gekommen sind. Im vergangenen Jahr kamen dafür 344 Spielfilme infrage, 2020 wird die Auswahl in jedem Fall schmaler sein. Bis doch noch neue Filme auf US-Leinwänden zu sehen sind, sind die aussichtsreichsten Anwärter auf einen Oscar momentan – hervorragender Kritiken sei Dank – vermutlich Kelly Reichardts »First Cow« und »Never Rarely Sometimes Always« von Eliza Hittman. Zwei kleine Independentproduktionen also, die unter regulären Umständen höchstens für die Independent Spirit Awards gehandelt würden. Aber sonst? Elisabeth Moss als Beste Hauptdarstellerin für den Gruselfilm »Der Unsichtbare«? Der bislang stets übergangene Jim Carrey als Bester Nebendarsteller für die Game-Adaption »Sonic the Hedgehog«? Was eigentlich lächerlich klingt, wirkt aktuell nicht vollkommen abwegig. Selbst eine Nominierung für »Bad Boys for Life« als Bester Film scheint plötzlich denkbar, quasi als Verneigung vor dem letzten richtigen Blockbuster vor Corona.
Damit die Auswahl an Oscaranwärtern ein bisschen größer wird, hat die Academy of Motion Picture Arts and Sciences – einmalig für dieses Jahr – ihre Regeln geändert. Bislang musste ein Film, um für den Oscar infrage zu kommen, mindestens eine Woche lang in einem Kino in Los Angeles zu sehen sein. Nun dürfen ausnahmsweise auch Filme zum Zug kommen, die wegen Corona auf einen VoD-Start umgeschwenkt sind. Ein ursprünglich wenigstens vorgesehener Kinostart bleibt aber Bedingung: »Trolls World Tour« muss also nicht um seine Chancen in der Kategorie Bester Animationsfilm bangen, doch die ausschließlich fürs Streaming geplante Netflixeigenproduktion »Familie Willoughby« wird ihm nur Konkurrenz machen können, wenn sie bis Jahresende noch auf der Leinwand zu sehen sein wird.
Von dieser Regelanpassung (sowie einer coronaunabhängigen Zusammenlegung der beiden Tonkategorien) abgesehen hält die Academy bislang die Füße still und wartet ab. Dass die 93. Oscarverleihung kommenden Februar stattfinden wird, ist weiterhin fest geplant. Eine Absage wäre ein Novum in der langen Geschichte des Filmpreises, weder der Zweite Weltkrieg noch der Autorenstreik 2007/08 zogen diese Konsequenz nach sich. Lediglich verschoben wurden die Oscars bisher dreimal: 1938, als Los Angeles von einer Flut heimgesucht wurde, 1968 nach der Ermordung Martin Luther Kings sowie 1981 nach dem versuchten Attentat auf Ronald Reagan. Doch in all diesen Fällen war nur die Veranstaltung selbst die Schwierigkeit, nicht die Tatsache, dass das vorangegangene Kinojahr keine Filme hervorgebracht hätte.
Wie viel sich an der derzeitigen Situation in den kommenden sechs Monaten ändern wird, steht aktuell in den Sternen. Zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe ist man in Europa, Asien und Australien damit beschäftigt, die Wiedereröffnung der Kinos vorzubereiten, während in Hollywood die großen Studios mit Nachdruck ihre Verleihstrategien überdenken und zumindest einige Filme lieber online starten als zu verschieben (darunter »Artemis Fowl«, »The High Note« oder »Scooby«). Immerhin Christopher Nolan kämpft unverdrossen dafür, seinen »Tenet« auf den größtmöglichen Leinwänden zeigen zu können – und das nach Möglichkeit noch im Sommer.
Blickt man lediglich auf die Filme, die nach aktuellem Stand noch einen Kinostart 2020 planen, könnte die nächste Oscarverleihung eine sehr massenkompatible Veranstaltung werden. »Mulan« oder »A Quiet Place II«, Kenneth Branaghs »Der Tod auf dem Nil« und Daniel Craigs letzter Auftritt als James Bond, Steven Spielbergs Remake von »West Side Story« sowie das späte »Top Gun«-Sequel stehen noch ins Haus und würden mit Nominierungen sicherlich zumindest beim übertragenden Sender ABC für Begeisterung sorgen, wo man die jährlich sinkenden Quoten der Oscarverleihung stets vor allem damit erklärt, dass die Zuschauer die nominierten Filme nicht kennen.
Doch womöglich starten ja – verspätet und gehandicapt – auch noch jene Filme ins diesjährige Oscarrennen, die vor Corona noch als besonders aussichtsreich gehandelt wurden. Allerdings sind Filme wie Wes Andersons »The French Dispatch«, das Liebesdrama »Ammonite« mit Kate Winslet und Saoirse Ronan oder »Nomadland« von Chloe Zhao jene Art von Oscaranwärtern, die in der Vergangenheit stets den Hype von Festivalpremieren und monatelanges Werben bei den Academymitgliedern inklusive Screenings, Partys und Händeschütteln brauchten, um ihren Favoritenstatus zu erlangen. Wie das nun funktionieren soll, wenn etwa das Festival in Toronto im September nur in veränderter Form und größtenteils digital stattfinden will und statt Bussibussi beim Cocktailempfang auch gegen Jahresende noch größtmöglicher Abstand und Maskentragen angesagt sind, kann man sich noch nicht recht vorstellen. Dass auch kommenden Februar wieder eine Oscarverleihung stattfinden wird, bezweifelt dennoch niemand ernsthaft. Und vermutlich wird es auch trotz allem wieder genug Zuschauer geben, die sich über ihre Länge beschweren.
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