Streaming-Tipp: »Shtisel«
»Shtisel« (Serie, 2013-2016). © Netflix
Es ist eine fremde und seltsame Welt. Die Serie »Shtisel«, in Israel ein Publikumserfolg, erzählt von Rabbi Shulem Shtisel, dem Patriarch einer jüdischen Großfamilie aus Jerusalem. In dieser chassidischen Glaubensgemeinschaft haben Männer lange Schläfenlocken, Frauen tragen eine Perücke, den sogenannten »Scheitel«. Und bevor sie einen Schluck Wasser trinken oder einen Raum betreten, sprechen sie ein Gebet.
Die Gepflogenheiten dieser ultraorthodoxen Sekte, die den Holocaust als göttliche Strafe dafür ansieht, dass europäische Juden nicht fromm genug lebten und sich heimischen Gesellschaften zu sehr angepasst hätten, kennen selbst Menschen in Israel kaum. Inzwischen aber ist die Thematisierung dieser religiösen Parallelwelt fast zum Trend geworden.
Der tiefenscharfe Blick, mit dem »Shtisel« Einrichtungen, Gesten, Rituale und die jiddische Sprechweise erfasst, verdankt sich der Beratung eines Insiders: Akiva Weingarten wuchs in New York auf und ist nun, nachdem er den Chassiden den Rücken kehrte, Rabbiner bei liberalen Juden in Dresden. Sein Charakter floss ein in die zweite Hauptfigur der Serie, Shulems Sohn Akiva, gespielt von Michael Aloni.
In »Shtisel« geht es weder um eindimensionale Kritik an Religion noch um deren Apologie. Mit ihrer feinsinnig gesponnenen Geschichte erzählen die Macher Ori Elon, Alon Zingman und Yehonatan Indursky von einem engmaschigen religiösen Korsett – das Gläubigen spirituellen und seelischen Halt bietet. Zur Bürde wird Religion erst durch die aberwitzigen Manipulationen des Patriarchen Shulem, der das Dickicht der teils sophistisch anmutenden Vorschriften stets zu seinen Gunsten auslegt.
So macht er seiner im Altenheim lebenden Mutter das Fernsehen abspenstig. Um herauszufinden, wie es in ihrer Lieblingsserie weitergeht, unternimmt die gebrechliche alte Dame Anstrengungen, die dazu führen, dass sie die Treppe hinunterstürzt. Solche Verwicklungen erzählt »Shtisel« mit eleganten Ellipsen, die sich über mehrere Episoden hinziehen. Um die vielstimmige Geschichte voranzutreiben, entwickelt die Serie zudem eine einfallsreiche und humorvolle Bildsprache mit wundervoll skurrilen Traumszenen.
Zu einem Ereignis wird »Shtisel« durch den präzisen Blick auf weibliche Charaktere. Frauen, so viel steht fest, sollen in dieser Community nur eins: verheiratet werden und möglichst viele Kinder bekommen, damit die Gemeinschaft fortbesteht. Ohne diese Funktion zu rechtfertigen oder zu verkitschen, zeigt die Serie, wie Frauen – derweil Männer die Thora studieren – die eigentlichen Drahtzieher sind. So schaut der eitle Shulem ziemlich pikiert aus der Wäsche, als er erfahren muss, dass er als Lehrer längst schon pensioniert worden wäre, wenn seine Mutter nicht heimlich sein Gehalt für ihn gezahlt hätte. Mit ihren vielen liebevollen Überraschungen entwickelt diese Serie eine hypnotische Intensität. Die fremde und seltsame Welt wird am Ende merkwürdig vertraut.
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