Sozialer Abstand
Der Szenenbildner Alexandre Trauner war ein lebhaft polyglotter Mensch, was sich aus seiner Biographie (er wurde in Budapest geboren und ging Ende der 1920er aus politischen Gründen ins französische Exil) sowie seiner ruhmreich zwischen Europa und Hollywood schillernden Karriere (er arbeitete mit Marcel Carné, John Huston, Joseph Losey, Bertrand Tavernier, Orson Welles und nicht zuletzt Billy Wilder) erklärte.
In seiner Rede vermischten sich zuweilen die Idiome. Er legte stets Wert darauf, sich, wenn es eben ging, in der jeweiligem Landessprache zu artikulieren. Bei unseren Begegnungen sprachen wir meist Deutsch miteinander. Unser letztes Telefongespräch endete mit einem Satz, der mir seither oft und in letzter Zeit häufiger durch den Kopf geht. Es fand 1988 statt, als er die Dekors für »Der wiedergefundene Freund« entwarf, den Jerry Schatzberg nach einem Drehbuch von Harold Pinter inszenierte. Ein Teil der Dreharbeiten fand in Berlin statt. Wir wollten uns zu einem Interview treffen, was aber daran scheiterte, dass der Drehplan plötzlich geändert wurde und er am nächsten Tag nach Stuttgart abreisen musste. Er entschuldigte sich für die Absage, an der er keine Schuld trug. »Beim nächsten Mal«, versicherte er, »passen wir auf, dass wir uns nicht vermeiden.«
Ich liebte diese Formulierung innig, die sich weder aus dem französischen Sprachgebrauch, noch aus dem englischen so recht erklären ließ; für den ungarischen kann ich aus Unkenntnis nicht bürgen. Jetzt liest sie sich, dank einer neuen, unverhofften Form urbaner Paranoia, wie ein Gebot, das wir alle einhalten sollten. Der öffentliche Raum hat sich in eine allerdings frühlingshaft lockende Schemenwelt verwandelt, in der jede Nähe unsere persönliche Sphäre bedroht. Andererseits: Zum Glück sind die Straßen nicht ausgestorben; im Wortsinne wäre das unerträglich.
Aus gegebenem Anlass bat vor ein paar Tagen der Redakteur einer Wochenzeitung, für die ich arbeite, seine Autoren um Kurztexte zu ihren Lieblingsfilmen über Epidemien. Die Vorschläge der anderen waren zum Teil höchst originell: erstaunlich, wie groß und verzweigt der Korpus einschlägiger Filme ist. Meine eigenen Vorschläge gingen zunächst nicht über die Überlegungen hinaus, die ich an dieser Stelle in »Panik in den Straßen« darlege. Ich entschied mich in der Eile dann für »Der Omega Mann« mit Charlton Heston, was keine ganz so schlechte Wahl war. Heute morgen jedoch kam mir ein Film in den Sinn, der weit besser zum Jetzt gepasst hätte. Meines Wissens ist er in Deutschland nie herausgekommen, liegt aber in einem sehr akzeptablen Transfer in England auf DVD vor. Es handelt sich um »80000 Suspects« (1963) von Val Guest.
Zwei Jahre zuvor hatte der Regisseur bereits einen ziemlich guten Weltuntergangsfilm gedreht, »Der Tag, an dem die Erde Feuer fing« (der indes auch erst zehn Jahre später im ZDF seine Deutschlandpremiere erlebte). Er schildert eine durch einen Atomschlag ausgelöste, globale Klimakatastrophe aus der Perspektive der Fleet Street, dem damaligen Zentrum der britischen Presse. Ein toller Journalistenfilm, der nur in der amerikanischen Verleihversion ein hoffnungsvolles Ende findet. Wie der Titel ankündigt, beleibt der Radius der Verheerung in »80000 Suspects« begrenzt. Letztlich eine Endemie. Fast tröstlich aus aktueller Sicht, aber das Moment der lokalen Nähe ist ungleich furchterregender. »It could be worse«, heißt es anfangs, und die Replik lautet: »Things always can get worse.«
Der Film spielt im südenglischen Bath, wo ein von Richard Johnson gespielter Arzt an Silvester einen Patienten mit mysteriösen Symptomen behandelt. Rasch findet er heraus, dass es sich um Pocken handelt. Er verhängt eine Quarantäne für den Ort und macht sich auf die Suche nach dem ersten Träger. »80000 Suspects« hat durchaus Lehrfilmchaarakter: Der Bevölkerung wird vor Augen geführt, wie sich eine Epidemie entwickelt, und was jeder einzelne tun kann. Lässlich idealisiert der Film die gesellschaftlichen Institutionen, das Sozialamt tritt helfend auf den Plan, die Presse ist sich ihrer Verantwortung bewusst. Aus Spannungsgründen gibt es natürlich einen Moment der Verzagtheit («It's beating us!«), und das Ambiente hat einen gothic-Aspekt: Nebel, ein abgelegenes Hotel, eine kathartische Feuersbrunst. Guest hat sein Handwerkszeug in der Horrorschmiede Hammer gelernt. Aber die Verwurzelung im Schauplatz ist vielschichtig: Bath trägt seinen Namen nicht von ungefähr, der Film evoziert die historischen römischen Bäder und etabliert damit, damals womöglich unbegriffen, aber derzeit triftig, das Motiv der Hygiene.
Die melodramatische Nähe seiner Konstruktion, die man dem Drehbuch seinerzeit vorwarf, trift nun den Nerv eines enger gewordenen sozialen Panoramas. Johnsons entfremdete Ehefrau, die Krankenschwester Claire Bloom (zwar unterbeschäftigt, aber dennoch sublim), ist vom Virus infiziert. Und die Geliebte, an der ihre Ehe scheitern könnte, erweist sich als Patient Zero. Die private und die gemeinschaftliche Katastrophe verschmelzen: eine Tragödie der unmittelbaren Reichweite.
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