Unabhängig und stark
»Sweet Thing« (2020). © Lasse Tolbøll
Im Gegensatz zu anderen Sektionsleitern der Berlinale ist Maryanne Redpath als Leiterin ihrer Reihe »Generation Kplus und 14plus« unter dem neuen Berlinale Leitungsteam bestätigt worden. Zuvor in Stellvertreterfunktion, kuratiert Redpath seit nunmehr 13 Jahren das beständig hochwertige Programm für die jungen Zuschauer. Regelmäßig ist von Pädagogen und Kritikern zu hören, dass die Filme für die Kplus Reihe, also für Kinder bis 13 Jahren, zwar einem hohen künstlerischen Anspruch genügen, aber für dieses Alter zu schwierig und zu düster seien.
Das mag einerseits stimmen, andererseits zeigt gerade wieder der diesjährige Preisträger des Gläsernen Bären, dass die Kinderjury entgegen aller Bedenken genau den Film ausgezeichnet hat, der eine dramatische Familiensituation in außergewöhnliche Bilder packt und als der schwierigste Film unter den 13 Kplus Filmen galt: »Sweet Thing« aus den USA von Alexandre Rockwell ist harte Jugendwirklichkeit in scharfen Schwarzweiß-Bildern. Rockwell, der zu den bekannteren Independent-Filmern seines Landes gehört, schildert den Alltag von Billie und Nico, die bei ihrem alkoholkranken Vater aufwachsen. Als der Vater eine Entziehungskur macht, kommen die Geschwister bei der Mutter und ihrem brutalen Lover unter. Orientierungslosigkeit, die Unberechenbarkeit des Freundes sowie der Verrat der Mutter, stürzen die Kinder zunehmende in eine Krise. Ein angedeuteter Missbrauch bringt die Zwangsgemeinschaft zur Explosion.
Rockwell hat mit seinen eigenen Kindern als Darstellern ein dichtes Drama geschaffen, das verstärkt durch die Schwarzweiß-Ästhetik kaum ein Entrinnen zuzulassen scheint. Mit »Sweet Thing« setzt Kplus sozusagen seine diesjährige Programmatik: schwierige Themen – virtuos erzählt. In einer immer komplexeren und unüberschaubaren Welt kann es keine fröhlichen Filme geben, aber Filme, die einen Lösungsansatz aufzeigen. Auch »Sweet Thing« hat zunächst einmal ein positives Ende.
Katastrophen, die über die Kinder hereinbrechen, müssen sie meist allein bewältigen, die Erwachsenen stehen ihnen nicht zur Seite. In »Mamá, Mamá, Mamá« dem argentinischen Beitrag von Sol Berruezo Pichon-Rivière, ertrinkt Cleos kleine Schwester im hauseigenen Pool. Um ihr in der Trauer beizustehen, fluten Cousinen, Oma und Tanten das Haus. Den Mädchen gelingt es ganz ohne die Eltern, Cloe Beistand zu leisten. Ein Kammerspiel, das in blassen Bildern trotz der großen Traurigkeit auch vom Erwachsenwerden erzählt. Als Cleo das erste Mal ihre Periode bekommt, kann die ältere Cousine ihr ganz pragmatische Tipps geben, so unkonventionell, wie wahrscheinlich kein Elternteil dazu im Stande wäre.
Auch Candice Phees jüngere Schwester starb, seitdem vergräbt sich die Mutter in ihrem Bett und der Vater in seiner Arbeit. Im australischen Beitrag »H is for Happiness« von John Sheedy, dem Eröffnungsfilm von Kplus (und vordergründig ein lustiger Film), droht eine Familie an diesem Schicksalsschlag zu zerbrechen. Candice Phees Zuversicht und ihr schier ungebremster Optimismus lässt sie manchmal über das Ziel hinausschießen und komische Situationen kreieren, die sie gar nicht beabsichtigt hatte. Ein Wirbelwind, der seine Eltern ein ums andere Mal in den Wahnsinn treibt, aber immer ist hinter der fröhlichen Fassade eine große Trauer zu spüren. Zu Recht erhielt der Film eine lobende Erwähnung der Jury.
So still wie seine Hauptfigur »Perro« kommt der nach ihm titulierte deutsche Beitrag von Lin Sternal daher, der in Nicaragua im Dschungel spielt. Ein dokumentarisch anmutender Film, der den indigenen Menschen im Regenwald eine Stimme gibt. Nur aus dem Radio erfahren wir, dass ein Kanal vom Atlantik zum Pazifik gebaut werden soll, der die Bevölkerung bedroht. Von Perro wissen wir nicht viel, er redet kaum und verzieht keine Miene. Ganz in sich gekehrt, folgt er den alten Naturpfaden, um dann doch in die nächste Stadt zur Tante umzuziehen, nachdem der Lehrer nicht mehr in seine Dorfschule kommt. Sehr subtil werden hier in starken Bildern Umweltzerstörung und Vertreibung der Ureinwohner in Szene gesetzt.
Um dieselben Themen dreht sich auch Byambasuren Davaas Film »Die Adern der Welt«, der die Menschen in der Mongolei zwischen Tradition und Moderne beobachtet. Davaa hatte schon mit der »Geschichte vom weinenden Kamel« 2003 eine Liebeserklärung an ihre mongolische Heimat vorgelegt. Moderne meint hier die Goldgräberkonzerne, die den Lebensraum von Amras Familie bedrohen. Der Konflikt zieht sich mitten durch die Familie, denn die Mutter will das Entschädigungsgeld annehmen, während der Vater darauf beharrt, sein traditionelles Nomadenleben fortzuführen. So hart ihr Leben auch ist, wir können emotional die Faszination der weiten Steppe und das symbiotische Nomaden Leben mit den Tieren nachvollziehen.
Die ausgewählten Filme des diesjährigen Programms für die Kinder zeigten weltumspannende Probleme, die gleichzeitig die Konflikte jedes einzelnen jungen Menschen in der ein oder anderen Form wiederspiegeln. Die Erwachsenen stellen ihren Nachwuchs manchmal vor ungeahnte Herausforderungen, indem sie die Kinder ungefragt in neue Lebenssituationen hineinwerfen, die sie nicht überblicken, so wie in »Los Lobos« (Samuel Kishi Leopo, Mexiko) und »Sthalpuran« (Akshay Indikar, Indien), wo die Mütter ihre Jüngsten ohne Erklärungen mit in eine neue Stadt und völlig ungewohnte Lebensumstände nehmen. Auch diese zunächst orientierungslosen verzweifelten Kinder finden ihren Weg, unabhängig und stark zu werden. Das macht Mut.
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